Prof. Dr. Jörg Robert

Kaiyuan Li

Kontakt: k.lispam prevention@student.uni-tuebingen.de

Projektbeschreibung

Gottfried Benn und die Musik

Die autobiografische Aussage, in seinem Haushalt werde „kein Chopin gespielt“, wiederholte Gottfried Benn gerne. Mit der Musikbranche insgesamt hatte er, abgesehen von seiner Zusammenarbeit mit Paul Hindemith Anfang der 1930er Jahre an dem Oratorium Das Unaufhörliche, scheinbar kaum Kontakt. Dabei versuchte er bis zu seinem Lebensende, seinen Dilettantismus in der Musik sowie seine grundsätzlich kritische Einstellung gegenüber Musik und Musikern nicht zu verhehlen. Benn betrachtete Musiker als „pflanzlich“ und „naiv“, was seiner Meinung nach eine genuine Unterlegenheit der Musiker gegenüber anderen Künstlern wie Malern zur Folge hatte. Diese bis zum Zynismus reichenden, erniedrigenden Äußerungen zur Musik finden sich nicht nur in seinen bedeutenden Werken im öffentlichen Kontext wie z. B. Probleme der Lyrik, sondern auch in seinen Briefen, unter anderem an seinen Brieffreund F. W. Oelze. Interessiert zeigte er sich nahezu ausschließlich an Schlagern, wenn er überhaupt etwas zur Musik äußerte oder schrieb. Daher scheint es auf den ersten Blick durchaus berechtigt, Benns Selbstbild als „amusischen“ Dichter nicht in Zweifel zu ziehen, wie es auch die bisherigen Forschungen getan haben.

Bei genauerer Betrachtung von Benns gesamtem Werk und seinen Briefen kann dieses von ihm gepflegte Selbstbild jedoch kaum standhalten. Tatsächlich begann Benns Kontakt mit der Musik bereits in seiner Kindheit, als er aufgrund seines Hintergrunds mit Kirchenliedern in Berührung kam. Spätestens seit seiner Gymnasialzeit in Frankfurt an der Oder lässt sich von einem systematischen musikalischen Interesse sprechen, als er seine frühesten Gedichte in bewusster Anlehnung an deutsche Kunst- und Volkslieder verfasste. In den folgenden Lebensjahren setzte sich dieser Kontakt in vielfältigen Formen fort, wie Opern- und Konzertbesuche, Lektüre musikalischer Schriften und Radiohören. Aus dieser langen Geschichte des Kontakts mit der Musik ergeben sich nicht nur Briefe oder Essays, die sich mit Musik befassen, sondern auch zahlreiche Gedichte aus verschiedenen Lebensphasen, die auf eine weit intensivere Auseinandersetzung Benns mit der Musik hinweisen, als bisher angenommen.

Diese Gedichte deuten darauf hin, dass Benn sich musikalische Kenntnisse nicht (nur) aufgrund des Bedarfs an Zugehörigkeitsbehauptung zum elitären Gelehrtentum angeeignet hat, wie man es bei ihm oft kennt. Vielmehr verstand er die musikalischen Kenntnisse und Formen als ein Mittel, seinen Sprachschatz zu bereichern, womit er durch die Dichtung die „artistische“ ästhetische „Ausdruckswelt“ zur Darstellung bringen wollte. Insofern bieten diese Musik-Gedichte nicht nur eine Gelegenheit, Benns Persönlichkeit neu kennenzulernen, sondern auch eine Perspektive, „die künstlerische Form“ neu zu erschließen, die für Benns Poetologie zentral ist. Da in Benns Musik-Gedichten das Verhältnis zwischen klassischer und alltäglich-populärer Kunstform ständig thematisiert wird, sind diese Gedichte auch für eine genauere Lokalisierung von Benns ästhetischer Grundposition zwischen Autonomieästhetik und Alltäglichkeit bedeutsam.

Aus diesem Grund widmet sich mein Dissertationsprojekt vor allem Benns Musik-Gedichten aus seiner gesamten Karriere unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen historischen Kontexte. Neben der hermeneutischen Dimension werden auch die kultur- sowie materialgeschichtlichen Dimensionen der jeweiligen Gedichte betrachtet. Die Forschung wird sich hauptsächlich in chronologischer Folge entfalten, um die Entwicklung von Benns Musikpoetik und -ästhetik im Kontext seiner Musikrezeptionsgeschichte, die anhand textueller und materieller Quellen ergründet wird, deutlich darzustellen. Die Dissertation gliedert sich daher in drei Hauptteile, in denen vier Schaffensphasen Benns besprochen werden: Jugendwerke und Werke zwischen 1910 und 1930 (vor Das Unaufhörliche), 1930 bis Kriegsende und Nachkriegsphase. In den jeweiligen Hauptteilen werden die Gedichte gemäß Einflussquellen und Entstehungskontext weiter in kleinere Gruppen eingeteilt und analysiert, sodass die Verbindungen zwischen verschiedenen Gedichten herausgearbeitet werden. Angesprochen wird ebenfalls die Benn-Rezeption aus der musikalischen Seite am Ende, wenn die Materialien es erlauben.