Prof. Dr. Jörg Robert

Marisa Irawan

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Projektbeschreibung

Figuren des Dritten. Thomas Manns Roman Der Zauberberg

In vielen Texten Thomas Manns, denen ein für den Autor typisches dichotomes Denksystem zugrunde liegt, stehen sich zwei antithetische Mächte oder Prinzipien gegenüber. Diese (manchmal nur scheinbar) unvereinbaren Gegensätze, wie beispielsweise Künstler- und Bürgertum, Eros und Thanatos oder Männlichkeit und Weiblichkeit, manifestieren sich auch im Figureninventar. Gustav von Aschenbach schwankt in Der Tod in Venedig zwischen dem strengen Leben des Durchhaltens und seiner leidenschaftlichen Liebe zu Tadzio und damit zwischen Apoll und Dionysos. Auf dem Zauberberg stehen sich Pessimismus und Humanismus, Leben und Tod gegenüber.
Viele Figuren können genau einer Hälfte der Dichotomie zugeordnet werden, doch andere Personen changieren auf merkwürdige Weise zwischen den Polen – zwischen den Geschlechtern und Ideenwelten. Diese Gestalten lassen sich als Figuren des Dritten bezeichnen. Dieser „Schlüsselfigur“ (Koschorke) der Kulturwissenschaften wird in neueren semiotischen Theoremen eine wichtige Funktion zugesprochen. Mit ihrem kulturwissenschaftlichen Zuschnitt und ihrem Fokus auf Motiv- und Figurenkonstellationen und deren psychosoziale Dynamiken kann die Figur des/der Dritten auch für das Feld der Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden.
Thomas Manns Erzählen zeichnet sich weniger durch Oppositionsbildung aus als vielmehr und grundsätzlicher durch den Aufbau von Dichotomien und die gleichzeitige Infragestellung derselben durch Figuren des Dritten sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Erzählebene. Leitend für meine Interpretation sind mehrere Fragen: Welche Auswirkungen hat der Dritte auf die Beziehungen unter den Figuren? Verfügt er über eine konstituierende oder destabilisierende Kraft? Kann er binär codierte Systeme unterlaufen oder stabilisiert er sie gerade durch seine Anwesenheit? Ist das Attribut des Dritten auf eine Person festgelegt oder kann es wechseln bzw. weitergegeben werden? Lassen sich Figurationen des Dritten auch in narratologischen Strukturen nachweisen? Auf der Handlungsebene möchte ich die Figur des Dritten sowohl als Person in einem Beziehungsgeflecht, als auch als Vereinigung (scheinbar) widersprüchlicher Prinzipien in einer Gestalt untersuchen. Wie leitet sich das eine aus dem anderen ab bzw. wie stehen diese beiden Konzepte zueinander? Welche Kategorie ist im Werk Thomas Manns vornehmlich von Bedeutung? Eine Auseinandersetzung mit diesen Fragekomplexen verspricht auch interpretatives Potential: Erteilt Mann den ordnenden Prinzipien an sich eine Absage oder ergreift er Partei für eine philosophische bzw. moralische via media zwischen ihnen?

(Die Arbeit wurde im Februar 2020 an der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft eingereicht und am 28. Juli 2020 erfolgreich verteidigt.)