Institut für Kriminologie

Sexuelle Gewalt gegen Minderjährige in der evangelischen Kirche - Ergebnisse des Forschungsverbunds ForuM

Am Abend des 13. Mai 2024 fand der zweite und letzte Vortrag des Kriminologisch-Kriminalpolitischen Arbeitskreises (KrimAK) im Sommersemester 2024 statt. Der Referent Prof. i.R. Dieter Dölling, ehemaliger Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Heidelberg, berichtete vor rund 100 Anwesenden über die Ergebnisse der Forschungsgruppe ForuM, die sich umfassend mit der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland beschäftigt hat.

Nach einer kurzen Einführung in die verschiedenen Teilprojekte der Untersuchung legte der Referent einen Schwerpunkt auf das von ihm mitbetreute Teilprojekt. Dieses widmete sich der Häufigkeit sowie dem institutionellen Umgang mit Missbrauchsvorwürfen in den evangelischen Landeskirchen. Es wurden bekannte Missbrauchsfälle, die durch eine Befragung der Landeskirchen und der Diakonie ermittelt wurden, sowie Disziplinarakten von Pfarrpersonen ausgewertet. Eine ursprünglich geplante Personalaktenanalyse, die weiteren Aufschluss über die Häufigkeit von Missbrauchsfällen hätte geben können, habe wegen erheblicher Verzögerungen seitens der Landeskirchen innerhalb des Forschungszeitraums nicht durchgeführt werden können. Das Forschungsprojekt erfasse daher nur „die Spitze der Spitze des Eisberges“.

Im ersten Teil des Vortrags legte der Referent eindrücklich die gesammelten Daten zu den Beschuldigten und Betroffenen dar. Bis zum Abschluss des Forschungsprojekts am Ende des Jahres 2020 seien insgesamt 1.259 Beschuldigte und 2.225 Betroffene ermittelt worden. Die Beschuldigten seien überwiegend männlich und bei der ersten Tat im Durchschnitt 40 Jahre alt gewesen. Bei 45,8% der Beschuldigten gebe es außerdem Hinweise auf Taten gegen mehrere Minderjährige. Die Betroffenen seien ebenfalls überwiegend männlich und beim ersten sexuellen Übergriff im Durchschnitt 12 Jahre alt gewesen. Ein beachtlicher Teil der Ersttaten habe in den Jahrzehnten von 1950 bis 1970 stattgefunden.

Danach berichtete Dölling über die Folgen der Taten für die Betroffenen, die sich unter anderem als psychische Probleme geäußert hätten. Als Beispiele führte er Angststörungen und Depressionen an. Ein beachtlicher Teil habe sich professionelle, psychotherapeutische Hilfe gesucht. Eine besondere Hochachtung gelte aus seiner Sicht denjenigen, die das Trauma auch ohne professionelle Hilfe bewältigt hätten.

Anschließend beleuchtete der Vortrag die Gemeinsamkeiten der Tatabläufe anhand von Betroffeneninterviews. Gemeinsam seien allen Taten die machtvolle Stellung der Beschuldigten, eine unklare Grenzziehung zwischen beruflicher und privater Sphäre, fehlende Kontrollen sowie ein inkonsistentes Sexualitätsverständnis zwischen Entgrenzung und Tabuisierung. Der Referent betonte dabei, dass sich diese Mechanismen in gleicher Ausprägung in der DDR und der BRD hätten finden lassen. Gesellschaftlich-politische Rahmenbedingungen scheinen die Tatabläufe demnach nicht beeinflusst zu haben.

Im zweiten Teil des Vortrags ging Dölling auf die Reaktionen der evangelischen Landeskirchen auf die Übergriffe ein. Die evangelische Kirche habe erst sehr spät, ab dem Jahr 2018, die sexuelle Gewalt als eigenes Problem erkannt und begonnen, sich mehr als nur punktuell damit auseinanderzusetzen. Auch sei die Aufarbeitung in vielerlei Hinsicht problembehaftet. Als einen Beleg wies der Referent auf die fehlende Unabhängigkeit der Ansprechpersonen für die Betroffenen hin. Außerdem seien die bekannt gewordenen Fälle nicht systematisch dokumentiert worden und es bestünden keine verbindlichen Regeln zum Umgang mit Tatvorwürfen. Rund 35% der durchgeführten Disziplinarverfahren seien folgenlos eingestellt worden, 51% davon aufgrund von Verjährung. Bei 65% der Verfahren seien Disziplinarmaßnahmen verhängt worden, wie zum Beispiel eine zwangsweise Versetzung des Täters in eine andere Gemeinde. Problematisch daran sei jedoch, dass nur wenige Gemeinden von den Umständen des Dienstwechsels erfahren hätten und es kein systematisches Verfahren über die Unterrichtung der neuen Gemeinden eines Beschuldigten gegeben habe.

In Interviews hätten die Betroffenen kritisch angemerkt, dass sexuelle Übergriffe in vielen Gemeinden ein „offenes Geheimnis“ gewesen seien, das Verfahren zur Aufarbeitung intransparent sei, den Betroffenen wenig Glauben geschenkt werde und sie den Eindruck hätten, nicht die sexuelle Gewalt werde als Problem wahrgenommen, sondern vielmehr die Benennung der Gewalt.

Im dritten und letzten Teil des Vortrags widmete sich Dölling der Präventionsarbeit der Kirchen. Aus einer Selbsteinschätzung der Landeskirchen ergebe sich ein ambivalentes Bild. Während das Thema selbst enttabuisiert werde, bemängelten die Landeskirchen selbst eine unzureichende Etablierung der Schutzkonzepte und eine immer noch währende Ignoranz dem Thema gegenüber.

Die Betroffenen selbst hätten sich bezüglich der Prävention und Aufarbeitung der Kirchen eine Beschleunigung der Verfahren sowie eine Verantwortungsübernahme durch die beschuldigten Mitarbeitenden gewünscht.

In einem abschließenden Fazit wies Dölling erneut auf die bedauerlich geringe Datenbasis hin. Die Kooperation der evangelischen Kirche mit den Forschenden sei mehr als ausbaufähig. Ein Vergleich mit den Fallzahlen der katholischen Kirche sei deshalb wenig sinnvoll. Gleichwohl lasse sich festhalten, dass Missbrauch auch in den evangelischen Landeskirchen weit verbreitet gewesen sei.

In einer anschließenden halbstündigen Fragerunde betonte der Vortragende nochmals, dass sexuelle Gewalt sowohl in der evangelischen als auch der katholischen Kirche ein allgemeines, strukturelles Problem sei. Dessen ungeachtet habe er den Eindruck, dass sich in den letzten Jahren viel Positives getan habe und eine höhere Sensibilisierung für das Thema der sexuellen Gewalt zu beobachten sei.

Der nächste Vortrag im Rahmen des Kriminologisch-Kriminalpolitischen Arbeitskreises (KrimAK) findet im kommenden Wintersemester 2024/25 statt. Themenvorschläge dürfen gerne an das Institut für Kriminologie Tübingen gerichtet werden.