Bericht in der Wiwi-News Sommer 2010 zu unserer Forschung und Lehre

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Überblick über die Forschungsaktivitäten

Welchen Einfluss hatte Globalisierung auf den Lebensstandard der Europäer? Eine der vielen Fragen, für die sich die wirtschaftshistorische Forschungsgruppe um Professor Jörg Baten interessiert. Ein wichtiges Forschungsgebiet ist die Entwicklung von Humankapital und der allgemeinen Wohlfahrt in den verschiedensten Regionen der Welt. Der empirische Schwerpunkt macht die Gewinnung von neuem Datenmaterial und die Anwendung neuer Schätztechniken zu einem wichtigen Bestandteil. Ein inzwischen international anerkannter Indikator für den (biologischen) Lebensstandard ist die durchschnittliche Körpergröße einer Population. Durch die Analyse der verschiedenen Geburtsjahrgänge können Aussagen über die zeitliche Entwicklung des Lebensstandards der jeweiligen Population getroffen werden. An Batens Lehrstuhl wird beispielsweise untersucht, welche Regionen in Indien des 20. Jhd. besonders von Kriegen und Hungersnöten betroffen wurden und ob es in Südafrika regionale Unterschiede in der Diskriminierung schwarzer Menschen während der Apartheid gab. In seinem zweiten großen Forschungsgebiet widmet sich Herr Baten Firmengründungen und Innovationen. Ein aktuelles Forschungsprojekt verwendet die Anzahl der Patente, die länger als zehn Jahre laufen ("wichtige" Patente), als Approximation für die Innovationsfreudigkeit der verschiedenen Länder, und kann dadurch wichtige Determinanten für Innovation identifizieren.

Die Verknüpfung von Forschung und Lehre ist dabei besonders eng. Einige Studierende leisten in den Hauptseminaren eigene Beiträge zur Forschung (teilweise sogar schon in Proseminaren), weil dies mit wirtschaftsgeschichtlichen Daten - ohne Datenschutz, Steuergeheimnis usw. - besonders gut geht. Weitere Möglichkeiten sind Forschungspraktika (Bewerbung erforderlich, und in der Regel vorheriges Hauptseminar mit guten oder sehr guten Noten), und die Diplomarbeit. Wer mehr erfahren möchte zu den folgenden Forschungsfragen, kann die Adressen in den Web-Browser hineintippen (nicht zum Durchklicken):

Why Isn't the Whole World Developed? The Secrets of Growth Success…
www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/baten van zanden.zip

Verursacht Globalisierung zunehmende Ungleichheit?
www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/baten fraunholz.zip
www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/moradi baten.zip

Interdisziplinäre Forschung mit Archäologen
www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/koepke baten.zip

Was ermutigt Gründer?
www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/baten gruendung.zip

Warum Ihnen das Studium der Wirtschaftsgeschichte grosse Vorteile im Berufsleben bringt:

Die Zeitschrift WiWi-News führte ein Interview mit uns, in dem wir u.a. über die Inhalte unserer wirtschaftsgeschichtlichen Lehre sprachen. Der folgende Bericht dokumentiert, wie wichtig die Methoden der Datenanalyse und Präsentation sind, die Sie bei uns erwerben können.

Professor Dr. Jörg Baten

Die frühere Abteilung für Wirtschafts- und Sozialgeschichte erfährt eine grundlegende Neuausrichtung. Mit der Berufung von Jörg Baten (35) hat die Fakultät einen Wissenschaftler gewonnen, der mit mikroökonomischen Modellen, ökonometrischen Methoden, computerunterstützter Datenanalyse und Präsentation dem jetzigen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte einen wirtschaftswissenschaftlichen und insbesondere empirischen Charakter gibt. Baten hat in Freiburg Wirtschafts- und Sozialgeschichte studiert und in München bei John Komlos (und somit im wissenschaftlichen Umfeld des Nobelpreisträgers Robert Fogel) promoviert. Für seine Dissertation "Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung in Bayern, 1730 bis 1880" erhielt er den Dissertationspreis 1998 des Volkswirte Alumni Clubs München. Seine Habilitationsschrift "Gründung, Produktivität und Erfolg von kleinen und großen Unternehmen in Deutschland, 1880 bis 1914" erscheint Ende diesen Jahres.

Erfahrungswissen wird empirisch untersucht

Professor Baten erwartet von den Studierenden seines Fachs nicht nur die Bereitschaft für die Arbeit an und mit Computern, sondern auch ein starkes Interesse an der Präsentation von Ergebnissen. Schließlich sollen, zum Beispiel, die mit Regressionsanalysen untersuchten wirtschaftshistorischen Daten klare, wissenschaftlich fundierte Antworten liefern. Eine zu untersuchende und zu erklärende Frage ist etwa die folgende: Welche Faktoren haben die Neigung zur Unternehmensgründung beeinflußt? Die Analyse vergangener Handlungen lässt manchen historischen Vorgang nicht nur in einem neuen Licht erscheinen, sie fördert auch ganz praktische, von der Wirtschaftspraxis stark nachgefragte Fertigkeiten und Fähigkeiten. "Manager müssen Daten analysieren können", sagt Baten. Das gilt für den Betriebswirt im Unternehmen in gleicher Weise wie für den Volkswirt, der etwa die wirtschaftliche Lage eines Entwicklungslandes untersucht und Verbesserungsvorschläge erarbeiten soll. Für Jörg Baten ist der Umgang mit Computerprogrammen zur Erforschung wirtschaftshistorisch interessanter Zusammenhänge eine pure Selbstverständlichkeit. Bereits seine Magisterarbeit hatte er zum Thema Computerkartographie verfasst. Mehr oder weniger nebenbei hatte er sich in Informatik vertieft, schrieb Software-Programme und arbeitete an verschiedenen Forschungsprojekten. Diese "Erfüllung von Neugierde" kommt ihm heute als Wissenschaftler zugute und fördert erstaunliche Erkenntnisse zu Tage, besonders in seinen Forschungsarbeiten zum "biologischen Lebensstandard", der sich mit den Komponenten Gesundheit, Lebenserwartung und Ernährung befasst. Er geht dabei von der Überlegung aus, daß sich durchschnittliche Kaufkraft und Gesundheit nicht immer parallel entwickeln. Baten entwickelte hier eigene, anthropometrische Kennziffern, die vom biologischen Zusammenhang zwischen Ernährung, Gesundheit und Körpergröße ausgehen. So führt er in seinem aktuellen und internationalen Projekt nicht nur den Nachweis des biologischen Zusammenhangs zwischen der Qualität der Ernährung und der durchschnittlichen Körpergröße. Baten benennt auch die wirtschaftspolitischen Gründe, die beispielsweise in der NS-Zeit dazu geführt haben, dass im damaligen Deutschland die Körpergrößen stagnierten, während sie sonst im 20. Jahrhundert überall anstiegen: Das Autarkiestreben und die Preisregulierungspolitik der Hitler-Diktatur führte zu einer Verschlechterung der Gesundheit und zu steigender Mortalität. Baten konnte das insbesondere für die großen Städte an der Küste nachweisen. Er gibt mit diesen Erkenntnissen wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungshilfen für heutige, ungünstig ernährte Weltregionen, die direkt anwendbar und für die Gesundheitsforschungen von Bedeutung sind. Es verwundert daher nicht, dass der Wissenschaftler bereits ein erweitertes Forschungsprojekt "Ökonomie und Epidemiologie" initiiert hat, in dem die Zusam-menhänge zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, Ernährungsqualität und dem Auftreten von Krankheiten analysiert werden. Dazu ist eine Zusammenarbeit mit den Tübinger Epidemiologen geplant. Bedeutung des Fachs und die "New Economy" Dass der versierte Umgang mit empirischen Methoden und Ver-fahren im Rahmen des betriebs- und volkswirtschaftlichen Fächerkanons eine "wichtige Zusatzqualifikation" darstellt, steht für Jörg Baten außer Frage. Ihm liegt viel daran, dass seine Studierenden entsprechende Techniken erlernen und eigene Verfahren entwickeln. Das kann etwa der Aufbau einer eigenen, kleinen Datenbasis sein, mit der die Studierenden ihre ersten Auswertungen in erstaunlich kurzer Zeit erlernen. Genauso gut kann es aber die Überlegung sein, wie man beispielsweise die recht voluminösen Statistischen Handbücher nach den wichtigsten und spannendsten Informationen durchsucht, die Texte und Tabellen einscannt und so der Antwort zu der oben stehenden Frage nach den förderlichen Faktoren von Unternehmensgründungen schon etwas näher kommt. Nützlich sind die erworbenen Kenntnisse in der quantitativen Datenanalyse natürlich auch für andere Arbeits-marktbereiche, etwa in der Marktforschung, der Aktienkursanalyse und dem Asset Management. Wie unentbehrlich sein Fach in jedem betriebs- und volkswirtschaftlichen Studium sowie in den Geschichtswissenschaften ist, zeigt Baten am Beispiel der Unternehmensforschung. Das Steuer- und Betriebsgeheimnis macht es oft unmöglich, die Verhaltensweisen heutiger Unternehmer in sensiblen Bereichen zu analysieren. Antworten auf Fragebögen, die an die Unternehmen zur freiwilligen Beantwortung geschickt werden, unterliegen einer problematischen Selektion. Nicht so in dem ungeheuer gro-ßen Datenreservoir der Wirtschaftsgeschichte, in dem es z.B. nach 80 Jahren kein Steuergeheimnis mehr gibt und die Daten oft von besserer Qualität sind als heutige Informationen. Es hat sich zudem in vielen Forschungen gezeigt, daß das ökonomischen Verhalten von Menschen sich in den letzten 100 Jahren relativ wenig verändert hat, wenn man die technischen Rahmenbedingungen kontrolliert. Inhaltlich hält die Wirtschaftsgeschichte viele interessante Erkenntnisse bereit, wie es z.B. Baten mit der Wirtschaftskrise von 1901/02 aufzeigt, die er in seiner Habilita-tionsschrift als "erste Globalisierungskrise" bezeichnet. Damals kam die neue Technologie "Elektrizität" zum breiten Einsatz bei Massenprodukten. Entsprechend hoch waren die Erwartungen, daß es durch diese Technologie kontinuierliche Wirtschaftswachstum (und keine Aktienkursverluste) mehr gäbe. Tatsächlich führte die Krise von 1901/02 zu erheblicher Massenarbeitslosigkeit. Baten wertet diese Erfahrungen aus und kommt zu dem Schluss: "Die neue Internettechnologie, die heute die Phantasie von Investoren anregt, kann in manchen Aspekten mit der Elektrizitätstechnologie der letzten Jahrhundertwende verglichen werden." Manch einem Investor wäre damals wie heute wohl weniger Geld verloren gegangen, hätte er nur die vorliegenden historischen Kenntnisse über Warnsignale von Krisen etwas mehr beachtet. Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit ist Jörg Baten ehrenamtlich als "Network Chair in Economics" bei der European Social Sciences History Associa-tion aktiv. Privat hat er ein sehr breites Interesse für Musik, besonders aber für die italienische Musik des 14. Jahrhunderts.