Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2020: Leute
Herausragender Wissenschaftler und Pionier auf den Gebieten Mikroelektronik und Brain Computer Interfaces
Zum Tode von Professor Dr. Wolfgang Rosenstiel ein Nachruf von Oliver Bringmann und Hendrik Lensch
Am 19. August 2020 verstarb Professor Dr. Wolfgang Rosenstiel nach langer Krankheit in Tübingen. Wolfgang Rosenstiel war zuletzt ordentlicher Professor und Lehrstuhlinhaber für Technische Informatik und Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. In diesen und vielen weiteren Funktionen hat er sich bis kurz vor seinem Tod mit bewundernswertem Elan für die Fakultät und den Fachbereich Informatik eingesetzt und deren positive Entwicklung in den letzten Jahren maßgeblich mitgeprägt. Mit Wolfgang Rosenstiel verlieren wir einen überaus geschätzten Kollegen, einen herausragenden Wissenschaftler wie Lehrer und eine vorausschauende und hochengagierte Führungspersönlichkeit.
Geboren und aufgewachsen in Geisingen, studierte Wolfgang Rosenstiel Informatik an der TH Karlsruhe (heute KIT) und wurde dort 1984 promoviert. Seine Dissertation zum Thema „Synthese des Datenflusses digitaler Schaltungen aus formalen Funktionsbeschreibungen“ verfasste er bei Prof. Dr. Detlef Schmid.
Nach einer Zeit als Postdoktorand an der TH Karlsruhe (1984-1986) und als Abteilungsleiter der Forschungsgruppe „Automation of Circuit Design“ am FZI Forschungszentrum Informatik (1986-1990) wurde Wolfgang Rosenstiel 1990 auf den Lehrstuhl für Technische Informatik an der Universität Tübingen berufen. Daneben wurde er 1990 in das Direktorium des FZI aufgenommen und erfüllte diese Aufgabe bis zuletzt.
Als Forscher war er international sehr hoch angesehen, die deutsche Forschungslandschaft in der Mikroelektronik wurde von ihm wesentlich mitgestaltet. So war Prof. Rosenstiel weltweit einer der Pioniere im rechnergestützten Schaltungsentwurf aus algorithmischen Verhaltensbeschreibungen. Aus seinen Forschungsaktivitäten gingen in den 1980er Jahren das Hardware-Synthesewerkzeug „Carlsruhe Digital Design sYstem (CADDY)“ und die Hardware-Beschreibungssprache „Digital Specification Language (DSL)“ hervor. CADDY war weltweit eines der ersten sogenannten High-Level-Synthesesysteme, um aus programmähnlichen Beschreibungen vollautomatisch digitale Hardware, wie Mikroprozessoren, zu synthetisieren. Die hohe Leistungsfähigkeit des Ansatzes führte bereits früh zu einer Kommerzialisierung (CALLAS) durch Siemens Halbleiter. Später trieb er die Etablierung von SystemC als Sprache für virtuelle Prototypen voran und führte neue rekonfigurierbare Architekturkonzepte ein, bis hin zu System-on-Chip-Plattformen, die sich autonom an sich ändernde Betriebsbedingungen anpassen.
Bereits seit den frühen 1990er-Jahren hat Prof. Rosenstiel sich sehr vorausschauend mit dem optimierten Einsatz von maschinellen Lernverfahren in unterschiedlichen technischen und medizinischen Anwendungen beschäftigt und früh die Bedeutung des Maschinellen Lernens für intelligente Prothesensteuerungen und Brain Computer Interfaces erkannt. Insbesondere hat Prof. Rosenstiel mit seiner interdisziplinären Forschung zu invasiven und nicht-invasiven Brain Computer Interfaces (BCI) international für Aufsehen gesorgt und konnte 2009 den hoch renommierten ERC Advanced Grant zu diesem Thema einwerben. Bis vor kurzem hat er an der Optimierung der Mensch-Maschine-Interaktion geforscht und damit den Weg zum heute schnellsten BCI geebnet sowie weiteren Anwendungsgebieten eröffnet, wie die Rehabilitation von Schlaganfall-Patienten und die Erkennung der menschlichen Arbeitslast.
Seine außerordentliche, international anerkannte wissenschaftliche Expertise führte zu einer beeindruckenden Anzahl von akademischen Dienstleistungen, unter anderem die Mitwirkung an der in der Halbleiterbranche hochangesehenen Roadmap für die zukünftige Entwicklung der Halbleitertechnik „International Technology Roadmap for Semiconductors (ITRS)“, die Etablierung wichtiger wissenschaftlicher Konferenzen, wie z.B. die „Design, Automation, and Test in Europe (DATE) Conference and Exhibition“, die zu den international bedeutendsten Konferenzen im Bereich „Electronic Design Automation“ zählt, sowie seine aktive Mitarbeit als General Chair (DATE 2007, EuroDAC 1997, HLSW92) und Program Chair (u.a. EuroDAC 95, VLSI 95, EuroDAC 94, EDAC 92) auf internationalen Konferenzen. Zudem war er aktiv als Editor-in-Chief des Springer-Journals „Design Automation for Embedded Systems“ sowie Mitglied in mehreren Editorial Boards wissenschaftlicher Journale (u.a. ACM Transactions on Embedded Computing Systems).
In der Lehre hat er unter anderem die Schwerpunkte Technische Informatik, Rechnerarchitektur, Entwurf und Synthese mikroelektronischer Systeme, Neuronale Netze in technischen Anwendungen, Multimediatechnik vertreten.
1990 wurde Prof. Rosenstiel in die noch junge Tübinger Informatik auf den Lehrstuhl für Technische Informatik berufen. Als einer von sieben Professoren hat er die Informatik in Tübingen von Anfang an mitgestaltet. Wolfgang Rosenstiel hat seitdem an der Universität Tübingen viele unterschiedliche Leitungsaufgaben übernommen und diese in bewundernswerter Weise mit Professionalität, Engagement und Weitblick ausgefüllt. Er war Prodekan und später Dekan der Fakultät für Informatik, die bis 2002 bestand, und wurde anschließend geschäftsführender Direktor des Wilhelm-Schickard-Instituts innerhalb der Fakultät für Informations- und Kognitionswissenschaften.
Als erster hauptamtlicher Dekan der 2010 neu gegründeten Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät – eine Fakultät von der Größe einer eigenständigen Universität – hat er es verstanden, in kürzester Zeit eine schlagkräftige Dekanatsverwaltung aufzubauen, die verschiedenen Fachbereiche erfolgreich weiterzuentwickeln und wichtige strategische Weichenstellungen zu initiieren. Unermüdlich hat sich Prof. Rosenstiel auf allen Ebenen in Wissenschaft, in der Politik und der Industrie für die ihm anvertrauten Bereiche eingesetzt und konnte so beeindruckende Erfolge erzielen. In seiner Amtszeit hat Dekan Rosenstiel weit über 100 Berufungsverfahren vorangebracht, und in der Fakultät konnten unter seiner Führung mit „Kontrolle von Mikroorganismen zur Bekämpfung von Infektionen (CMFI)“ und „Maschinelles Lernen in den Wissenschaften” gleich zwei Exzellenzcluster etabliert werden.
Auch für die Gründung des Cyber Valley in Stuttgart und Tübingen hat Wolfgang Rosenstiel sich stark gemacht, so dass der Fachbereich Informatik zusammen mit dem MPI für Intelligente Systeme und der Universität Stuttgart inzwischen zu den weltweit führenden Forschungsstandorten im Bereich Maschinelles Lernen zählt.
Sein organisatorisches Talent war aber auch über die Grenzen Tübingens hinaus gefragt. Als ehemaliges Mitglied des Senats-Ausschusses und des Bewilligungsausschusses für die Sonderforschungsbereiche der DFG, als Mitglied des Direktoriums des Forschungszentrums für Informatik (FZI) in Karlsruhe und als Vorstandsvorsitzender des edacentrum für „Electronic Design Automation“ hat er einen wesentlichen Beitrag zur Wissenschaftslandschaft in Deutschland geleistet. Durch diese Netzwerke hat er nicht nur die wissenschaftliche Forschung, sondern auch den systematischen Transfer in Industrie und Mittelstand vorangetrieben.
Dass er all diese Aktivitäten gleichzeitig organisieren konnte und mit so viel Freude und Leidenschaft vorangebracht hat, war eine seiner herausragenden Eigenschaften, die uns immer in Erinnerung bleiben werden.
Prof. Rosenstiel war sportlich sehr aktiv und ein begeisterter Skifahrer, Tennisspieler und Tänzer. Dies hat er auch in einer idealen Weise mit der Arbeit verbunden. Bereits in den späten 1980er Jahren hat er als interne Klausur das Skiseminar ins Leben gerufen, um die Gruppen der Universität und des FZI inhaltlich näher zusammenzubringen. Ziel war es, die neusten Forschungsergebnisse einer größeren internen Gruppe zu präsentieren und gemeinsam zu diskutieren sowie in Einzelgesprächen die nächsten Ziele abzustecken. Ein weiteres, nicht minder wichtiges Ziel war es, möglichst viele Teilnehmer zur Stärkung des Gruppengefühls und des Teamspirits auf die Skier zu stellen und gemeinsame Stunden im Schnee zu verbringen. In einer lustigen Laune sagte er einmal, „so wie man Ski fährt, so arbeitet man, also wer schnell Ski fährt, arbeitet schnell“. Dieser Idee folgte er auch selbst und ließ es sich nicht nehmen, nach einer rasanten Abfahrt immer als erster in den Lift einzusteigen. Mit seiner sehr strukturierten, zielorientierten und kreativen Art betreute er mehr als 120 erfolgreich abgeschlossene Promotionen. Viele seiner Absolventen haben inzwischen führende Positionen in Industrie und Wissenschaft inne.
Aber auch außerhalb der Universität hat Wolfgang Rosenstiel u.a. als Vorstand der Museumsgesellschaft Tübingen e.V. immer wieder Verantwortung übernommen. Auf dem Museumsball ließ er sich im Rahmen einer Rock-’n’-Roll-Show durch die Luft wirbeln. Gerne ging er auch in die Oper und organisierte über viele Jahre mit voller Leidenschaft kulturelle Veranstaltungen in Tübingen.
Wir werden Professor Rosenstiel als Dekan und Kollegen schmerzlich vermissen und ihn dankbar in Erinnerung behalten.