Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2022: Forschung
Kolonialismus als transkulturelles Geschehen: ein deutsch-togoisches Forschungsprojekt
Ein Interview mit der togoischen Germanistin Dr. Amatso Obikoli Assemboni
Die togoische Germanistin Dr. Amatso Obikoli Assemboni von der Universität Lomé war im Frühjahr drei Monate zu Gast an der Universität Tübingen. Sie untersucht in einem interdisziplinären Kooperationsprojekt, inwiefern der Umgang mit der deutsch-togoischen Kolonialgeschichte nicht als eine Praxis des transkulturellen Erbens verstanden werden muss. An dem Projekt beteiligt sind auch ihre Tübinger Kollegin Professorin Dr. Sigrid G. Köhler vom Deutschen Seminar, Professor Dr. Bernd Grewe aus der Geschichtswissenschaft sowie der Germanist Professor Dr. Gilbert Dotsé Yigbe und der Germanist und Historiker Dr. Kokou Azamede, beide ebenfalls aus Lomé. Assembonis Aufenthalt in Tübingen wurde gefördert durch ein Afrika-Stipendium des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.
Frau Dr. Assemboni, wie sind Sie zur Germanistik gekommen?
Ich bin in Lomé aufgewachsen, der Hauptstadt von Togo. Die Amtssprache in Togo ist Französisch. Als erste Fremdsprache lernt man in der Schule Englisch, als zweite Fremdsprache werden ab der 11. Klasse Deutsch oder Spanisch angeboten. Eigentlich wollte ich Spanisch lernen, aber ich wurde quasi „gezwungen“, Deutsch zu wählen, denn an dem Gymnasium, an dem ich war, wurde als 2. Fremdsprache nur Deutsch angeboten.
In der 5. Klasse hat unser Lehrer uns erklärt, dass Togo die „Musterkolonie“ Deutschlands war. Der Lehrer war stolz auf diese Vergangenheit – und wir alle waren es auch. Erst im Studium habe ich ein differenzierteres Bild von dieser Zeit bekommen.
In der 11. Klasse habe ich an einem Wettbewerb des Pädagogischen Austauschdienstes teilgenommen und gewonnen: ich durfte dann in den Ferien einen Monat in Deutschland verbringen. Zwei Wochen war ich bei einer Gastfamilie in Duisburg, außerdem habe ich Bonn, Berlin und München besucht. Deutschland hat mir sehr gefallen und so habe ich nach der Schule angefangen, Germanistik zu studieren.
Togo war von 1884 bis 1914 deutsche Kolonie. Wie stark prägt das koloniale Erbe Togo in der Gegenwart?
Die Epoche der deutschen Kolonialzeit wird in Togo bis heute positiv wahrgenommen, um nicht zu sagen verklärt. Togo wurde – vereinfacht gesagt – von Deutschland gegründet, denn zu Beginn der deutschen Kolonialzeit gab es kein Land Togo, sondern nur die Nachbarländer Dahomey und Gold Coast.
Nach dem 1. Weltkrieg kam es zur Teilung der deutschen Kolonie Togoland zwischen Frankreich und Großbritannien: Der westliche Teil kam unter die Verwaltung der britischen Goldküste und ab 1957 zum neu gegründeten Staat Ghana, der östliche Teil unter französische Verwaltung. Und bis heute wird bei uns in Togo permanent verglichen: Was hat Deutschland gemacht, was hat Frankreich gemacht? „Als die Deutschen da waren, da war es so und so“ – das ist im kollektiven Gedächtnis geblieben. Eine Anekdote hierzu: In der Novelle „Die deutsche Brücke“ des togoischen Schriftstellers Sami Tchak geht es um eine noch von Deutschen gebaute Brücke in der Stadt Sokodé. Obwohl bereits verfallen, wird sie von den Menschen weiterhin benutzt. Eine von den Franzosen neu gebaute Brücke wird dagegen nicht mehr benutzt.
Deutsch steht für Stärke, für Zuverlässigkeit und für Arbeit. Und unsere Politiker greifen dieses Narrativ gerne auf, wenn es gerade nützlich für ihre Interessen ist.
Wie unterscheidet sich die Rezeption der Kolonialgeschichte in Deutschland von der in Togo?
Die Bevölkerung in Togo weiß nicht wirklich, wie die Kolonialgeschichte ihres Landes verlaufen ist. Aus dieser Unkenntnis rührt die von mir beschriebene nostalgische Verklärung der Kolonialzeit. In Deutschland ist der Diskurs über die Kolonialzeit dagegen sehr selbstkritisch geprägt, die koloniale Vergangenheit wird nicht mehr glorifiziert, sondern immer mehr in Frage gestellt. Wenn ich im Internet nach deutschen Texten zu Togo oder den deutschen „Schutzgebieten“ suche, finde ich darin kaum Konnotation von Nostalgie.
Wie ist die Quellenlage zur deutschen Kolonialgeschichte?
Die ethnografischen Berichte und geografischen Beschreibungen dieser Zeit sind alle auf Deutsch verfasst worden. Ich wünsche mir, dass wir die Dokumente zur deutschen Kolonialgeschichte ins Französische übersetzen bzw. übersetzen lassen können, damit auch unsere Historikerinnen und Historiker sowie andere Interessierte sie nutzen können. Das könnte dazu beitragen, dass wir mehr über unsere eigene Vergangenheit erfahren.
Viele Dokumente zur Kolonialgeschichte sind im Internet oder in deutschen Bibliotheken verfügbar, beispielsweise in den Universitätsbibliotheken oder im bawü-Verbundkatalog. Von Togo aus sind sie aber nicht zugänglich, das geht nur vor Ort in Deutschland.
Aus der jüngsten Vergangenheit sind dagegen einzelne Reiseberichte die einzigen Quellen.
Wie kam es zum Kontakt zu Sigrid Köhler?
Der Kontakt kam durch einen Studienaufenthalt meiner Kollegin Sigrid Köhler in Togo zustande. Dort hat sie auch meine Kollegen Gilbert Dotsé Yigbe, Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon, Kokou Azamede aus der Germanistik kennengelernt.
Am Anfang unserer Diskussionen stand die Frage, was die Rede von einer deutsch-togoischen Kolonialgeschichte eigentlich bedeutet, was es heißt, eine Geschichte zu teilen, inwiefern das Teilen selbst ein Teil des kolonialen Erbes sein kann und muss. Als Literaturwissenschaftlerinnen haben wir versucht, uns dieses Thema nicht zuletzt über literarische Texte zu erschließen. Dafür haben wir u.a. nach zeitgenössischer Literatur gesucht, die dieses koloniale Wissen bzw. Kolonialwissen vermittelt – und wir fragen uns natürlich ständig, welches Wissen tradiert werden sollte und welches vielleicht nicht mehr.
Zu Ihrem Forschungsprojekt: Wie wichtig ist die Kategorie der Transkulturalität für die Kolonialzeit – und für Ihre Arbeit?
Sigrid G. Köhler: Ich habe von meinen togoischen Kollegen und Kolleginnen gelernt, dass man das transkulturell denken muss: Togoerinnen und Togoer waren während der Kolonialzeit transkulturelle Akteurinnen und Akteure, die sich im deutschen und togoischen Kontext gleichermaßen bewegen konnten. Dabei wurden Texte verfasst, die nicht mehr streng dem einen oder anderen Kontext zugeordnet werden konnten. Ähnliches gilt auch für die deutschen Kolonisatoren, die sich auf das andere Land und seine Kultur – also auf Togo – einstellen mussten. Und auch sie haben sich dadurch verändert: Das heißt sie konnten vor Ort nicht mehr in gewohnter „deutscher“ Manier agieren, wie sie es in Deutschland getan hätten. Unser Ansatz ist es daher, Kolonialismus als ein transkulturelles Geschehen zu begreifen.
Auch unsere Projektarbeit ist transkulturell: Jeder bzw. jede bringt etwas in unser Projekt ein, was der bzw. die andere nicht kann – vor dem Hintergrund seiner bzw. ihrer individuellen Fähigkeiten und kulturellen Kompetenzen. Dadurch werden die Projektergebnisse im besten Sinne transkulturell sein.
Bislang lag der Schwerpunkt unseres Projekts auf der Literatur- und Geschichtswissenschaft, zukünftig sollen auch stärker medienwissenschaftliche Perspektiven mit einfließen. Insgesamt schwebt uns eine Lehr- und Forschungskooperation auf unterschiedlichen Ebenen vor, ein Antrag für einen Studierendenaustausch läuft bereits.
Amatso Obikoli Assemboni: Wir wollen gemeinsam die unterschiedlichen Perspektiven der jeweils anderen wirklich ernst nehmen. Denn bestimmte Realitäten in einem Land kann nur ein Bewohner oder eine Bewohnerin eben dieses Landes beschreiben.
Das Interview führte Maximilian von Platen