Uni-Tübingen

Philosophie aus dem Aschegrab

Der Ausbruch des Vesuv begrub vor 2.000 Jahren die Städte Pompeji und Herculaneum unter einer heißen Aschewolke. 
Nun hilft KI bei der Sichtung verkohlter Schriftrollen – ein technologischer Sprung, der eine zweite Renaissance einleiten könnte.

Die Vesuvius Challenge ist ein beispielloser Wettbewerb auf dem Gebiet der Altertumswissenschaften, der das Potenzial hat, den Weg für so etwas wie eine zweite Renaissance zu ebnen. Ziel ist es, mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) Hunderte von verschlossenen Papyrusrollen mit antiker Literatur, die seit 2.000 Jahren nicht mehr gesehen wurde, virtuell zu entrollen.

Als der Vesuv im Jahr 79 n. Chr. ausbrach, begrub er verschiedene Städte am Golf von Neapel unter meterhohem vulkanischem Material – darunter auch Herculaneum, das in der Nähe von Pompeji liegt. Im 18. Jahrhundert wurde dort in der Nähe der antiken Stadtmauern und des Ufers eine außergewöhnlich luxuriöse römische Villa ausgegraben. Die herrlichen Wandmalereien, Mosaike, Büsten und Statuen der Villa wurden durch die Vulkanauswürfe konserviert. Dieses Gebäude, die Villa der Papyri, ist nach ihrem bemerkenswertesten Schatz benannt. Sie bewahrte die einzige erhaltene Bibliothek der Antike: rund 1.000 Papyrusrollen, die durch den Ausbruch nicht zerstört, sondern in eine Art Holzkohle verwandelt wurden. Bis zu ihrer Wiederentdeckung blieben sie in der Erde versiegelt.

Die Villa gehörte wahrscheinlich Lucius Calpurnius Piso Caesoninus, einem römischen Konsul und Schwiegervater von Julius Caesar. Er war der Förderer des epikureischen Philosophen Philodemus von Gadara (110 – 30 v. Chr.), der möglicherweise in der Villa lebte. Bevor er nach Italien ging, studierte Philodemus im philosophischen Zentrum der Epikureer in Athen. Der Begründer dieser Philosophierichtung, Epikur, nahm an, die Welt bestehe aus Atomen, und sah Vergnügen, Freundschaft und Atheismus als wesentliche Voraussetzungen für ein glückliches Leben an.

Die griechischen Originaltexte der Epikureer gingen in der Spätantike verloren, doch eine lateinische, poetische Version der philosophischen Ansichten Epikurs blieb erhalten. Sie war der Ethik und insbesondere Physik Epikurs gewidmet und trug den Titel „Über die Natur der Dinge“ (De rerum natura).

Seit Entdeckung der Rollen wurden mehrere Versuche unternommen, die zerbrechlichen Gebilde mechanisch zu entrollen, jedoch mit nur mäßigem Erfolg. Viele Schriftrollen wurden fast vollständig zerstört, während andere stark beschädigt wurden und nur noch in Fragmenten vorhanden sind. Teile von über 300 Schriftrollen, die in Neapel aufbewahrt werden, warten immer noch darauf, entrollt zu werden.


Der Schlüssel zur Unterscheidung der kohlehaltigen Tinte vom karbonisierten Papyrushintergrund liegt in der Anwendung der KI.


Was hat das alles mit KI zu tun? Die Idee, die Papyri von Herculaneum nicht-invasiv zu lesen, hatte erstmals 2007 der Informatiker Brent Seales von der Universität Kentucky. Er arbeitete etwa 15 Jahre lang an diesem Problem. Doch während er bei anderen Schriftrollen erfolgreich war, erwiesen sich die Papyri von Herculaneum als sehr schwierig. Seales erkannte, dass der Schlüssel zur Unterscheidung der kohlehaltigen Tinte vom karbonisierten Papyrushintergrund in der Anwendung der Künstlichen Intelligenz lag. Erste Experimente bestätigten seine Hypothese, dass KI dabei helfen könnte, die schwer lesbare Tinte auf CT-Scans zu identifizieren, aber es war noch ein weiter Weg bis zur Entschlüsselung der Geheimnisse. 

Der Silicon-Valley-Unternehmer Nat Friedman stieß auf die Arbeit von Seales und schlug vor, einen Open-Source-KI-Wettbewerb zu initiieren, um den Fortschritt zu beschleunigen. Mehrere Preise, darunter ein Hauptpreis in Höhe von 1 Million US-Dollar, wurden denjenigen Personen oder Teams versprochen, die das Problem des virtuellen Aufrollens der Schriftrollen knacken würden.

Seit März 2023 haben sich mehr als tausend Teams an diesem Wettbewerb beteiligt. Im Oktober 2023 wurden die ersten Buchstaben und Zeilen eines griechischen Textes entdeckt, und im Februar 2024 wurden die Hauptgewinner – die KI-Studenten Youssef Nader, Luke Farritor und Julian Schilliger – bekannt gegeben. Ihr KI-Modell enthüllte auf spektakuläre Weise Teile von 15 Spalten aus dem innersten Teil einer der Schriftrollen. Es handelte sich um einen Text über Ethik, der wahrscheinlich von Philodemus verfasst wurde. 

 

Bei dieser Technik des „virtuellen Entrollens“ wird die karbonisierte Schriftrolle zunächst in einem Teilchenbeschleuniger mit sehr hoher Auflösung gescannt. Dann wird die komplexe Struktur der Schriftrolle analysiert und virtuell geglättet – aber es ist noch kein Text zu sehen. Nun trainiert das Team KI-Modelle, Unterschiede in den Mustern der Tinte von den Mustern des verkohlten Papyrus herauszuheben. Mit bloßem Auge sind diese Unterschiede nicht zu erkennen, doch die KI lässt die Schrift hervortreten und Expertinnen und Experten können sie nun entziffern.

Die Bilder der Vesuvian Challenge sind der Beweis, dass ein virtuelles Entrollen der Schriftrollen von Herculaneum möglich ist. Obwohl es noch einige technische Schwierigkeiten zu meistern gilt, sollten viele der anderen ungeöffneten Schriftrollen in naher Zukunft virtuell entrollt werden können.

Dieser Durchbruch begünstigte die Finanzierung der zweiten Phase der Vesuvian Challenge, zu deren Spendern auch Elon Musks Wohltätigkeitsorganisation, die Musk Foundation, gehört. Das nächste Ziel besteht darin, weitere Schriftrollen zu scannen und den Prozess des virtuellen Entrollens zu beschleunigen und zu standardisieren. Es ist wahrscheinlich, dass in den nächsten Jahren Dutzende neuer altgriechischer und lateinischer Texte auftauchen werden. Da es sich bei der griechischen Bibliothek um eine epikureische Spezialbibliothek handelte, dürften die meisten der neuen Werke Themen wie Ethik, Mathematik, Musik und die Geschichte der Philosophie abdecken.

Es ist durchaus auch bedingt mit stoischer Literatur zu rechnen. Die epikureischen Texte enthalten oft lange Zitate von anderen Philosophen oder Autoren sowie bisher unbekannte historische Informationen. Die größten Überraschungen dürften jedoch die lateinischen Papyri bereithalten. Wir dürfen auf historische und poetische lateinische Werke aus der späten Republik und frühen Kaiserzeit Roms hoffen. 

Womöglich führt der Erfolg beim virtuellen Entrollen auch dazu, dass neue Ausgrabungen in der Villa der Papyri (Phase vier der Vesuvian Challenge) aufgenommen werden. Viele Forscher vermuten, dass die eigentliche griechische und lateinische Bibliothek – mit verlorenen Meisterwerken – noch nicht ausgegraben worden sind.

PD Dr. Kilian Fleischer gehört zum wissenschaftlichen Beirat der Vesuvian Challenge. Wenn die KI-Teams weitere Buchstaben, Zeilen und Spalten entschlüsselt haben, überprüfen die zwölf internationalen Expertinnen und Experten das Ergebnis auf Plausibilität: Handelt es sich tatsächlich um griechische und lateinische Buchstaben und hat die KI die Abfolge der Zeichen so entschlüsselt, wie sie auch tatsächlich geschrieben worden sind? Kilian Fleischer leitet an der Universität Tübingen das DFG-Forschungsprojekt „Die Geschichte der Stoa“. Seit über 15 Jahren beschäftigt er sich mit den Schriftrollen aus Herculaneum und arbeitet dazu mit KI-Forschern zusammen. Dadurch konnte er die genaue Grabstätte Platons in Athen identifizieren: im Garten seiner Akademie nahe dem Schrein der Musen.

Text: PD Dr. Kilian Fleischer


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