Uni-Tübingen

Das Glyphosat-Rätsel

Regen wäscht das Herbizid Glyphosat aus Äckern – so erklärten sich Umweltbehörden und Wissenschaftler lange den Stoff in unseren Gewässern. Bis Professorin Carolin Huhn und Kollegen einen weiteren wichtigen Ursprung der Substanz ausfindig machten.

Im Sommer 2022 waten wir mit Schaufeln und Probengefäßen in Flüssen rund um Tübingen, robben über Holzbretter zum Schlamm des abgelassenen Anlagensees und schaufeln von dessen schlammigem Grund erste Proben. Wir wollen wissen, was mit Glyphosat passiert, das durch Regen aus Feldern gewaschen wird. Wo lagert sich der Stoff ab? Die Messungen anschließend im Labor überraschen uns: Einige Flusssedimente enthalten so viel Glyphosat wie Ackerböden ein paar Tage nach dem Versprühen des Unkrautvernichtungsmittels. 

Sind die Sedimente im Seegrund also ein Speicher für Glyphosat? Wir wollen tiefer bohren und entnehmen weitere Sedimentkerne. Diesmal nehmen wir die Paläontologin Annett Junginger mit. Sie datiert die Sedimentkerne. Nun sind wir verblüfft: Wir sehen Glyphosat über den gesamten Kern, dessen Ende bis in die 1960er-Jahre reicht – in eine Zeit, als die Substanz noch gar nicht zugelassen war. Ist es über die Jahre tatsächlich so tief nach unten gesickert?

In diesen Schichten hätten wir so viel Glyphosat nicht erwartet. Auch sonst passen die Konzentrationen so gar nicht zu den Verkaufszahlen des Herbizids in der Landwirtschaft. Ebenso erstaunlich ist, dass wir über den gesamten Bohrkern das wichtigste Abbauprodukt von Glyphosat, die Aminomethylphosphonsäure, kurz AMPA, in noch viel höheren Konzentrationen feststellen können. Wie kommen die beiden Substanzen dorthin? 

Um das Ganze besser zu verstehen, wende ich mich an die Landesanstalt für Umwelt in Baden-Württemberg und frage nach Daten zu Glyphosat und AMPA, idealerweise aus dem benachbarten Neckar. Seit 2004 finden monatliche Messungen an mehreren Punkten im Neckar statt. Das ist für Glyphosat beeindruckend, denn der Stoff kann nur durch eine Spezialanalytik nachgewiesen werden. Wenn ich die Daten auftrage, sieht man eine ausgeprägte Saisonalität über fast zwanzig Jahre. Jedes Jahr steigen die Glyphosatkonzentrationen in den Monaten April und Mai an, erreichen ein Maximum im späten Sommer, um ab Oktober wieder zu sinken. Im Winter sind die Konzentrationen niedrig. Aber wie kann das sein? Der Anstieg im Frühjahr ist noch zu erwarten aus den Vorsaatanwendungen der Landwirtschaft um diese Zeit. Aber warum gehen die Konzentrationen im Herbst, in der Haupteinsatzzeit von Glyphosat, wenn alles abgeerntet ist und nur noch Stoppel auf den Feldern stehen, wieder runter? Und warum sind sie den Winter hindurch immer noch messbar, obwohl dann eigentlich kein Herbizid mehr gespritzt wird? 

Für uns Chemikerinnen und Chemiker noch erstaunlicher: AMPA und Glyphosat kommen über die gesamte Zeit in einem fast gleichen Verhältnis vor. Das ist bei dem unterschiedlich schnellen Abbau der beiden Stoffe, den wir in unseren Arbeiten in landwirtschaftlichen Böden bereits nachgewiesen hatten, kaum zu erwarten. Auf der Suche nach Antworten sehe ich, dass die Daten einer Messstelle in Mannheim fast identisch sind. Ich nehme an einem Workshop in Tübingen zur Kontamination von Ackerböden teil. Und werde auf einen neuen Gedanken gebracht: Was, wenn das Glyphosat immer da ist, weil es ständig neu gebildet wird? Gemeinsam mit seinem Abbauprodukt AMPA aus einem gemeinsamen Vorläufer? Für eine Chemikerin ein logischer Gedanke. Ich erinnere mich nun auch an Studien, die für AMPA eine andere Quelle kennen: Aminopolyphosphonate, die unter anderem in Waschmitteln genutzt werden. Könnte daraus auch Glyphosat entstehen? Chemisch verwandt sind sie. 

Ich schreibe an meinen Kollegen Professor Stefan Haderlein vom Zentrum für Angewandte Geowissenschaften. Seine Antwort: „Steile Hypothese, aber nicht unplausibel.“ Unsere Taskforce Glyphosat hat nun zwei Untersuchungsansätze: zum einen weiter in Gewässerdaten schauen, zum anderen die Laborarbeit. Über Kontakten zu Behörden erhalten wir einen größeren Datensatz aus Deutschland. Es wird schnell klar, dass die ausgeprägte Saisonalität, die so gar nicht zum Einsatz von Glyphosat passt, in fast allen größeren und kleineren Flüssen vorkommt. Das gleiche Bild in einem riesigen Datensatz aus Frankreich, später kommen Daten aus Luxemburg, Italien, den Niederlanden, Großbritannien und Schweden hinzu. Überall das gleiche Bild, obwohl die Landnutzung so unterschiedlich ist. 


Die Saisonalität entsteht aus dem Eintrag aus einer Punktquelle wie einer Kläranlage. An einigen Messstellen gibt es sogar klare Hinweise auf Haushalte als Quelle.


Dr. Marc Schwientek, Hydrologe an der Universität Tübingen, der uns bereits bei der Probenahme geholfen hat, schaut sich die Gewässerdaten mit seiner langjährigen Erfahrung an und bestätigt: Die Saisonalität entsteht aus dem Eintrag aus einer Punktquelle wie einer Kläranlage. Es ist eigentlich ein etwa konstanter Eintrag über das gesamte Jahr hinweg – die Saisonalität entsteht allein aus der niedrigeren Verdünnung im Sommer, wenn Flüsse wegen Verdunstung weniger Wasser führen. 

Wir vergleichen nun in einer akribischen Kleinarbeit die Eintragsmuster von Glyphosat und AMPA mit denen anderer Herbizide aus der Landwirtschaft, aber auch mit denen von Abwassermarkern wie Pharmazeutika. Carbamazepin zum Beispiel wird das ganze Jahr als Antiepileptikum eingesetzt und in der Kläranlage schlecht abgebaut. Es zeigt in einem Gewässer also klar die Bedeutung von Abwassereinträgen an.

Und tatsächlich: In Europa ist die Ähnlichkeit des Eintrags von Glyphosat und AMPA mit Kläranlagenstoffen unverkennbar. An einigen Messstellen gibt es sogar klare Hinweise auf Haushalte als Quelle.

Wie sieht es im Labor aus? Unser Verdacht fällt auf DTPMP, wie Glyphosat ein Phosphonat, mit dem langen Namen Diethylentriaminpentakis(methylenphosphonsäure). Der Stoff wird heute in Wasch- und Reinigungsmitteln im Haushalt und in der industriellen Reinigung eingesetzt, aber auch in der Textil- und Papierindustrie und der Trinkwassergewinnung. Auf dem Papier stimmt die Chemie – aber bestätigt er sich der Verdacht im Labor?

Zu den Phosphonaten ist erstaunlich wenig bekannt. Nach vielen Recherchen schätzen wir die eingesetzte Menge DTPMP in Deutschland pro Jahr vorsichtig auf 1.500 bis 2.500 Tonnen. Wie alle Phosphonate gilt auch DTPMP als kaum biologisch abbaubar. Für die Umwandlung in andere Stoffe wird meist die Photolyse durch Sonnenlicht genannt. Wir untersuchen diese Möglichkeit kurz, verwerfen sie aber wieder, da der Abbau hierbei zu langsam vonstatten geht. Wir experimentieren weiter. Glyphosatbildung aus DTPMP sehen wir dann zum ersten Mal in einer Reaktion mit Mangandioxid, das Bestandteil vieler Minerale ist. Die Gruppe von Stefan Haderlein hat Erfahrungen mit Phosphonaten und ihnen gelingt dieser Nachweis im Labor. Der erste Schritt ist geschafft: Es ist eine Beziehung hergestellt zwischen DTPMP und Glyphosat in einer Reaktion, wie sie in der Natur vorkommen kann. 

Wir Chemiker dagegen wechseln vom Acker in die Kläranlage. Wir geben DTPMP in Klärschlamm und beobachten über einige Tag gespannt, was sich tut. Und tatsächlich: Es entstehen Glyphosat und AMPA in einem relativ konstanten Verhältnis, wie wir es auch in den Gewässerdaten beobachtet haben. Und das nicht nur in einem einzigen Experiment, sondern in allen, die wir durchführen. Es sind nur kleine Mengen, die entstehen – unter einem Prozent – aber grobe Hochrechnungen für ganz Deutschland ergeben bereits relevante Mengen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass nicht Bakterien DTPMP umwandeln, sondern chemische Prozesse, die vermutlich durch Mangandioxid getriggert werden. Der Beweis ist eindeutig erbracht, viele wichtige Puzzlesteine sind gefunden und eingebaut. Das große Bild wird sichtbar, die Lücken werden wir hoffentlich in den nächsten Jahren schließen. Und wir sind gespannt, wie Bürger, Politik und Industrie reagieren werden.

Die Auflösung des Glyphosat-Rätsels hat Professorin Carolin Huhn gemeinsam mit Professor Stefan Haderlein im Sommer 2024 zuerst auf einem Preprint-Server veröffentlicht, damit Behörden rasch auf die Ergebnisse zugreifen konnten. In der Zwischenzeit ist der erste Beitrag auch von unabhängigen Forscherinnen und Forschern begutachtet und im Fachjournal Water Research erschienen.

Text: Carolin Huhn


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