Mehr als ein Drittel der in Baden-Württemberg vorkommenden Farn- und Blütenpflanzen sind gefährdet, ausgestorben oder potenziell gefährdet. Die Gründe dafür sind vielschichtig, fast immer verändert oder verschlechtert sich das Habitat durch die Art der Bewirtschaftung und klimatische Veränderungen. Die Artenvielfalt zu erhalten und zu fördern ist eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit. Botanische Gärten sind hierbei mit ihrer wissenschaftlichen und gärtnerischen Expertise ein wichtiges Bindeglied zwischen Forschung und dem behördlichem und ehrenamtlichem Naturschutz.
Wir in Tübingen engagieren und schon seit den 1990er Jahren im Botanischen Artenschutz und dieses Thema hat in den letzten Jahren immens an Bedeutung gewonnen. Heute haben wir über 100 Pflanzenarten aus Baden-Württemberg in Vermehrungs- oder Erhaltungskultur um in enger Zusammenarbeit mit den Naturschutzbehörden und den Expert:innen vor Ort deren Bestand zu fördern.
Wir sind gut vernetzt und in ständigem Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen aus anderen Botanischen Gärten, die ebenfalls im Botanischen Artenschutz aktiv sind, sowie mit den behördlichen Vertretern aller Ebenen und auch dem ehrenamtlichen Naturschutz in unserer Region.
Wir engagieren uns besonders in der Region rund um Tübingen, auf der Schwäbischen Alb und in Oberschwaben.
Warum Botanischer Artenschutz im Botanischen Garten?
Gärtnerinnen und Gärtner in Botanischen Gärten arbeiten täglich mit Pflanzen zu denen es keine Kulturanleitung gibt, und sind mit Begeisterung, Herzblut, Experimentierfreude und Frustrationstoleranz bei der Arbeit. Mit dieser Fachkompetenz und der Anbindung an Wissenschaft und Forschung und der mächtigen Schnittstelle zur Öffentlichkeit sind Botanische Gärten wichtige Bindeglieder im Botanischen Artenschutz. Unsere etwa 100 000 Besucherinnen und Besuchern pro Jahr können wir mit unserem Erhaltungskulturen-Schaubeet für den Botanischen Artenschutz sensibilisieren und interessieren. Hier können wir ganz konkret zeigen, welche Pflanzenarten vor der eigenen Haustüre stark gefährdet sind und was man für den Botanischen Artenschutz tun kann.
Wie läuft Botanischer Artenschutz am Botanischen Garten Tübingen ab?
Wir erhalten Anfragen von Seiten der Naturschutzbehörden oder/und der Artenschutzbeauftragten. Meist bekommen wir Saatgut, manchmal fahren wir auch zu den Standorten und schneiden Stecklinge um die letzten verbleibenden Pflanzen vegetativ zu vermehren. Die aus dem Samen und Stecklingen gezogenen Pflanzen bleiben meistens nur kurz im Botanischen Garten, damit die Gefahr von Kreuzungen gering bleibt. Gemeinsam mit unseren Azubis und FÖJ-Praktikantinnen begleiten wir dann die hauptamtlichen Artenschützer:innen zu den Auspflanzungen an die Ursprungsstandorte. Hier ist jede helfende Hand eine Unterstützung und für uns ist es sehr wichtig, die natürlichen Habitate kennenzulernen, weil man dabei viel über die optimalen Kulturbedingungen erfahren kann.
A propos Kultur: die Pflänzchen werden bei uns nicht verwöhnt, sondern sollen möglichst naturnahe Bedingungen haben und die gärtnerische Selektion wird bewusst vermieden. Die verantwortlichen Kolleg:innen bilden sich hierzu auch weiter: mit der Weiterbildung „Gärtner/in im Botanischen Artenschutz“ des VBG e.V. und auf Treffen der AG Botanischer Artenschutz.
Welche Arten fördern wir in Tübingen?
Derzeit aktiv fördern wir 92 Pflanzenarten in 153 Akzessionen (Herkünften). Darunter sind sehr bekannte Pflanzenarten wie die Arnika (Arnica montana) oder die Pfingst-Nelke (Dianthus gratianopolitanus), aber auch unscheinbare Arten, von denen die meisten Menschen noch nie gehört haben wie die Österreichische Rauke (Sisymbrium austriacum), die Moor-Binse (Juncus stygius) oder die Borstige Glockenblume (Campanula cervicaria).
Eine der ersten Arten war das Knotige Mastkraut (Sagina nodosa): von den 1997 nur noch 12 verbliebenen Pflanzen in einem Niedermoor bei Ulm wurden Samen und Brutknöllchen im Tübinger Garten vermehrt und konnten schon im darauffolgenden Jahr erstmals wieder am Wildstandort ausgebracht werden. Auf speziell vom Oberboden befreiten Flächen wurden dort insgesamt 240 Pflanzen wieder ausgepflanzt, die sich in den darauffolgenden Jahren kräftig vermehrten.
Von der Zottigen Fahnenwicke (Oxytropis pilosa) gibt es nur zwei Vorkommen in Baden-Württemberg. Die kleine Population in den wärmeliebenden Waldsäumen sowie den Trocken- und Halbtrockenrasen der Südhänge des Tübinger Spitzbergs bildet einen winzigen Vorposten des Hauptareals in den pontisch-pannonischen Steppen Osteuropas. Die Vermehrung gelang gut, das Ausbringen der Pflanzen am Naturstandort war hier allerdings wenig erfolgreich. Hilfreich ist bei dieser Art eine Erhaltungskultur im Botanischen Garten zur Samengewinnung, so dass bei Bedarf durch Ausbringung von Samen authothonen Materials im Gelände die Chancen erhöht werden können, dass einzelne dort auskeimende Pflanzen überleben.
Gut funktioniert hat allerdings die Wiederansiedlung des Kriechenden Selleries (Helosciadium repens), der in Deutschland stark gefährdet ist und in Baden-Württemberg erst kürzlich ausgestorben. Hier wurden rechtzeitig Pflanzen im Botanischen Garten angezogen und an passenden Standorten in den vergangenen Jahren bisher erfolgreich wieder angesiedelt.
[Stand: Dezember 2025, Alexandra Kehl]
Die Arbeitsgruppe „Botanischer Artenschutz“ im Verband Botanischer Gärten koordiniert den Ex situ-Schutz gefährdeter mitteleuropäischer Pflanzenarten durch die Mitgliedsgärten des Verbandes und einige kooperierende Institutionen und Privatpersonen. Dazu werden von der Arbeitsgruppe Standards für Erhaltungskulturen festgelegt und Zuständigkeiten der einzelnen Sammlungen für bestimmte Regionen und Pflanzenarten abgesprochen.