Der mit 50.000 Euro dotierte Dr. Leopold-Lucas-Preis wurde in diesem Jahr an die amerikanische Politikwissenschaftlerin und Philosophin Seyla Benhabib verliehen. Sie erhielt den Preis, wie es in der Verleihungsurkunde heißt, „in Würdigung ihrer luziden Analysen des problematischen Spannungsfeldes zwischen globalisierter Welt und souveränen Demokratien, ihrer diskursethischen Begründung universeller Menschenrechte im Kontext moderner Zivilgesellschaften und ihres moralisch-lobbyistischen Engagements für ein staatsbürgerliches Recht auf Gastfreundschaft zugunsten des politisch und kulturell Anderen, der Flüchtlinge, Asylsuchenden und Immigranten.“ Seyla Benhabib lehrt seit 2001 Politische Wissenschaft und Philosophie an der Yale University.
Seyla Benhabib beschäftigte sich in ihrem Festvortrag „Die Würde des Menschen und der Souveränitätsanspruch der Völker im Spiegel der politischen Moderne“ mit den „Widersprüchen von Gleichheit und Differenz“: „Was bedeutete es für den Einzelnen, ein gleichberechtigter Bürger zu sein und gleichzeitig seine kulturellen und religiösen Unterschiede bewahren zu wollen, oder sie gar hinter sich zu lassen? Keine andere intellektuelle Tradition der Welt erreicht die Stärke, den Einfallsreichtum und die Ehrlichkeit, mit der diese Widersprüche in der deutsch-jüdischen Tradition verhandelt werden.“ Und obwohl durch den Holocaust jüdische Kultur in Europa weitgehend zerstört worden sei, sei die Frage von „Gleichheit und Differenz“ für Europa aktueller denn je: „Aber wie soll man mit den selbst ernannten ‚Mischmasch-Deutschen’ umgehen, mit den franco-algeriens und franco-marocains, mit den äthiopischen und albanischen Italienern, den Pakistani und Hindu Brits?“ Begriffe wie „echt Deutsch“ oder „deutsche Leitkultur“ wertete Benhabib als einen klaren Versuch der Ausgrenzung, sie plädierte stattdessen dafür, einzugestehen, dass deutsche Kultur „zu keinem geringen Teil“ jüdisch sei, dass die französische Kultur „zu keinem geringen Teil“ algerisch, marokkanisch und tunesisch sei. Benhabib sprach sich am Ende ihres Vortrages für eine Kultur aus, „in der der Nicht-Einheimische dennoch ein Zuhause finden kann“, eine Kultur, die „uns die Welt mit den Augen der Anderen erblicken“ lässt - und zwar „ohne unmögliche Erwartungen und vollständige Emphatie.“
In einem Pressegespräch vor der Verleihung des Lucas-Preises hatte Seyla Benhabib, die 1950 in eine sephardisch-jüdische Familie in Istanbul geboren wurde, sich gegen das Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen an deutschen Schulen und gleichzeitig für ein kommunales Wahlrecht von langansässigen Ausländern in Deutschland ausgesprochen.
Der Dr. Leopold-Lucas-Preis würdigt alljährlich hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Theologie, der Geistesgeschichte, der Geschichtsforschung und der Philosophie. Er ehrt dabei insbesondere Persönlichkeiten, die zur Förderung der Beziehungen zwischen Menschen und Völkern wesentlich beigetragen und sich durch Veröffentlichungen um die Verbreitung des Toleranzgedankens verdient gemacht haben. Die Auszeichnung wurde 1972 von dem 1998 verstorbenen Generalkonsul Franz D. Lucas, ehemals Ehrensenator der Universität Tübingen, zum 100. Geburtstag seines in Theresienstadt umgekommen Vaters, des jüdischen Gelehrten und Rabbiners Dr. Leopold Lucas gestiftet. Die Evangelisch-Theologische Fakultät vergibt den Preis alljährlich im Namen der Universität Tübingen.
Maximilian von Platen