Hans Leyendecker hielt eine überregional für Aufsehen sorgende Rede über die Macht alter und neuer Medien
WikiLeaks blamiert eine Weltmacht, enthüllt geheime Depeschen. Gerade noch gefeierte Politiker stürzen über Plagiate, die sich im Netz präzise dokumentieren lassen. Die Affäre um den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff wird auch zu einer Affäre der Medien, weil einzelne Journalisten Informationen geschickt portionieren, die Dramaturgie des Skandals bestimmen wollen – und mit aller Macht auf den Rücktritt zielen. Und aus dem passiven Rezipienten, der allenfalls einen Leserbrief schreiben oder irgendwann erbost zum Telefonhörer greifen kann, ist selbst längst ein aktiver Publizist geworden, der sich mal reflektierend und recherchierend, aber manchmal auch voller Hass und Wut zuschaltet und nun in der Lage ist, sein ganz persönliches Thema einer Weltöffentlichkeit vorzustellen.
Hans Leyendecker, Redakteur der Süddeutschen Zeitung und vielfach ausgezeichneter Enthüllungsjournalist, sprach am 19. Juni im voll besetzten Festsaal der Universität über die Zukunft der Enthüllung und die Lage des Qualitätsjournalismus in den Zeiten einer entfesselten Meinungsmache. Überall regiert, so Leyendecker, eine neue Lust an der Empörung: „Es gibt Moden und Wut im Lande und die Wut hat viele Gesichter. Wut auf die Planer eines Bahnhofsumbaus. Wut auf Guttenberg. Wut auf Wulff. Und das Ventil für diese Wut ist auch und vor allem das Netz. Jeder, der in der öffentlichen Diskussion steht, wird im Cyberspace noch einmal besonders niedergemacht in Online-Foren, auf Facebook, YouTube, Twitter.“
Der Vortrag Leyendeckers war der Höhepunkt der 9. Tübinger Mediendozentur, zu dem das Rektorat der Universität Tübingen, das SWR-Studio Tübingen und die Tübinger Medienwissenschaft eingeladen hatten. In Vorbereitung auf diesen Tag befassten sich Studierende der Medienwissenschaft mit der Veränderung der Medienlandschaft und gestalteten für eine Sondersendung des SWR Beiträge über die Piratenpartei, die Macht von Facebook und die neuen Aufgaben der alten Medien. „Unser Ziel war es“, so Medienwissenschaftler Professor Dr. Bernhard Pörksen und Studioleiter Dr. Andreas Narr über das gemeinsame Projekt, „Wissenschaft und Anwendung zu verzahnen, aktuelle Medientrends auszuleuchten und deutlich zu machen: Im Zeitalter der digitalen Überall-Medien kann sich jeder in einen Enthüllungspublizisten verwandeln.“
