Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2013: Schwerpunkt
Lehrkräfte brauchen mehr Interkulturelle Kompetenz
‚Regionales Netzwerk Tübingen/Reutlingen zur Interkulturellen Öffnung von Schule und Unterricht‘
Die kulturelle Vielfalt in den deutschen Klassenzimmern war noch nie so groß, und dieser Trend wird sich in Zukunft weiter verstärken. Deswegen wird deutschlandweit in der Lehrerbildung damit begonnen, Vielfalt selbst als positive Ressource zu betrachten – unabhängig von der Frage, ob es sich dabei um eine kulturelle Vielfalt oder um eine andere Form von Heterogenität handelt. Lehrkräfte müssen künftig in ihrer Ausbildung unbedingt auch einen positiven Umgang mit Heterogenität erlernen, dafür benötigen sie unter anderem Interkulturelle Kompetenz.
Da in der baden-württembergischen Lehrerbildung die Vorgaben für die fachwissenschaftliche Ausbildung und für das Bildungswissenschaftliche Begleitstudium (BWBS) sehr klar definiert sind, hat der Gesetzgeber im Modul „Personale Kompetenz“ die Möglichkeit geschaffen, neben Inhalten wie „Kommunikation“ und „Selbstdurchsetzung“ wahlweise auch „Interkulturelle Kompetenz“ zu vermitteln. Die Universität Tübingen hat hierzu in den zurückliegenden Semestern bereits mehrere Kurse angeboten und plant auch für die Zukunft weitere Angebote in diesem Bereich.
Interkulturelle Kompetenz bedeutet vor allem eine personale Kompetenz, es geht um Sensibilität für sich selbst und das Gegenüber: Welche positiven und negativen Voreinstellungen habe ich gegenüber bestimmten Kulturen und Religionen, rühren diese wirklich aus eigenen umfangreichen Erfahrungen oder sind sie geprägt durch Medienberichte und aktuelle öffentliche Debatten? Welche Ängste und welche – vielleicht übertriebenen – Hoffnungen habe ich in Bezug auf eine Gesellschaft, die vom Neben- und Miteinander verschiedener, gleichberechtigter Kulturen geprägt ist? Die Sensibilität für das Gegenüber, etwa Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, bedeutet vor allem Empathie. Wie fühlt sich etwa ein Jugendlicher mit türkischen Wurzeln, wenn weder türkische Geschichte noch türkische Literatur zum Schulstoff gehört, wenn die Namen in den Lehrbuchtexten stets deutsche sind oder wenn Lehrkräfte beim Thema Islam unsicher oder unbeholfen reagieren?
Lehramtsstudierende sollen sich auf den Weg machen, Interkulturelle Kompetenz zu entwickeln. Dazu hat die Universität Tübingen in den vergangenen Semestern Experten und Betroffene eingeladen, die den Kursteilnehmern Rede und Antwort standen. Ein türkischstämmiger Gymnasiallehrer aus Stuttgart berichtete etwa aus seiner eigenen Schulzeit von einem traumatischen Erlebnis in der dritten Klasse, als eine Lehrerin beim Pausenspiel zu ihm sagte, so könne er die Mädchen vielleicht in der Türkei behandeln aber nicht hier. Wie lassen sich solche oder ähnliche Projektionen verhindern? Es gilt, eine Vorsicht gegenüber einer ‚kulturalistischen Falle‘ aufzubauen: Die künftigen Lehrerinnen und Lehrer sollen lernen, die starke Bereitschaft im eigenen Wahrnehmen, Urteilen und Handeln zu erkennen, Schülerverhalten einseitig als Ausdruck einer fremden Kultur zu verstehen – anstatt viel mehr auf individuelle, entwicklungsbedingte oder soziale Faktoren zu achten.
Im Sommersemster 2012 führte das Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung im Dezernat Studium und Lehre der Universität Tübingen einen Kurs für Lehramtsstudierende an einer sechsten Klasse der Gemeinschaftsschule Bad Urach mit einem Migrantenanteil von 80 Prozent durch. Der Kontakt zu Schulleiter Mathias Kessler kam über die gemeinsame Arbeit im ‚Regionalen Netzwerk Tübingen/Reutlingen zur Interkulturellen Öffnung von Schule und Unterricht‘ zustande. Nach einigen Theoriesitzungen arbeiteten alle Lehramtsstudierenden in Zweierteams mit der Klasse jeweils in Doppelstunden. Die wichtigste Erfahrung bei der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern, deren Familien aus ganz verschiedenen Kulturen stammten, war nach Aussage der Studierenden: Wo ein gutes Wir-Gefühl herrscht, sind Unterschiede eher bereichernd. Und: Die Unterschiede hängen selten mit kulturellen Traditionen zusammen, weit häufiger hat man es einfach mit ganz verschiedenen Charakteren zu tun. Eine solche Erkenntnis ist nur durch Erfahrung möglich. Derzeit sucht das Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung nach neuen Kooperationsmöglichkeiten mit Schulen im Bereich Tübingen.
Damit die Vielfalt nicht nur in den Klassenzimmern steigt, sondern parallel auch die Lehrerzimmer vielfältiger werden, gibt es Projekte wie ‚Migranten machen Schule‘. In diesem Projekt geht es gezielt um Lehrkräfte mit ausländischen Wurzeln und ihre positive Rolle in einer interkulturellen Gesellschaft und Schule. Ursprünglich von der Stadt Stuttgart ins Leben gerufen, hat das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg eine landesweite Ausdehnung beschlossen und die erwähnten regionalen Netzwerke zur Interkulturellen Öffnung von Schule und Unterricht ins Leben gerufen.
Kontakt: philipp.thomas[at]uni-tuebingen.de
Philipp Thomas
Aufbau Lehramtsstdium (GymPo I)
- Fachstudium inkl. Fachdidaktik
- Bildungswissenschaftliches Begleitstudium (BWBS): 2 Module
- Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium (EPG)
- Module Personale Kompetenz (MPK)
- Praxissemester
- 1. Staatsexamen
- Referendariat (incl. Betriebs und Sozialpraktikum)
- 2. Staatsexamen