Uni-Tübingen

Reflexion

Mit dem Begriff der Reflexion ist im Horizont des SFB die intellektuelle und bewusste Auseinandersetzung mit einer Ordnung gemeint, die durch Bedrohungsdiagnosen angestoßen wird. Sie kann sich sowohl auf Teilaspekte einer sozialen Ordnung beziehen als auch den Sinn einer Ordnung als Ganzen betreffen.[1] Im Rahmen des analytischen Modells sollen darunter vor allem jene Formen des Nachdenkens und der Diskursivierung gefasst werden, in denen das Selbstverständnis der Akteure innerhalb einer Ordnung bezogen auf ihre Umwelt thematisiert wird.[2] Als sozialer Prozess ist Reflexion auf die Frage angelegt: „Wer oder was sind wir im Angesicht der Bedrohung?“ Der Bereich der Reflexion verweist darauf, dass Bedrohungen nicht nur zur praktischen Bewältigung auffordern, sondern auch in der Sinn- und Identitätsdimension einer Ordnung aufgearbeitet werden müssen.[3]

Analytische Unterscheidungsprobleme ergeben sich vor allem im Hinblick auf die Diagnose, die ebenfalls ein reflexives Moment hat. Die Differenz im Sinne des Modells besteht darin, dass unter Diagnose u.a. jene reflexiven Auseinandersetzungen gefasst werden, die das Wesen der Bedrohung betreffen, während im Rahmen von Reflexion die Eigenschaften der eigenen Ordnung thematisiert werden. Es sind also Fragen nach dem „wer“ oder „was“ sind „wir“, die bedroht werden, die hier von Bedeutung sind.

Aufgrund der bereits abgeschlossenen Forschungen der ersten Förderphase können wir empirisch fundiert festhalten, dass in Bedrohungssituationen Merkmale der eigenen Ordnung sichtbar werden, die den Akteuren unter anderen Bedingungen selbstverständlich und unproblematisch erscheinen.[4] Das Verhältnis zwischen der Auseinandersetzung mit der eigenen Ordnung und ihrer stillschweigenden Affirmation erweist sich allerdings als komplex. Während die überraschenden und herausfordernden Momente von Bedrohungen dazu führen, dass den Akteuren manche Aspekte von Ordnungen auf einmal als kontingent – und das heißt: immer auch potentiell veränderbar – erscheinen, bleiben andere Wirklichkeits- und Plausibilitätsannahmen auch in akuten Bedrohungssituationen unhinterfragt. Dies führt dazu, dass manche Möglichkeiten der Veränderung von Ordnung durch Bewältigungspraxis im Moment der Bedrohung von den Akteuren wahrgenommen werden und andere, die aus einer Beobachterperspektive logisch und folgerichtig erscheinen, von ihnen nicht gesehen werden.[5]

Solche Inkongruenzen zwischen der Akteurs- und der Beobachterperspektive auf Reflexionsprozesse können als analytischer Anhaltspunkt dienen, um die Rolle von Deutungsmustern für das re-ordering bedrohter Ordnungen herauszuarbeiten und zu vergleichen. Reflexionsarbeit und die darin verwendeten Deutungsmuster leisten eine Grenzziehung, innerhalb derer Kontingentes von Nichtkontigentem unterschieden wird. Weil Bewältigungspraktiken nur an, aus der Sicht der Akteure, veränderbare Aspekte ansetzen können, beeinflusst Reflexion den Prozess, in dem Bedrohungsdiagnosen in Handlungen überführt werden.[6] Der Erfolg oder Misserfolg von Bewältigungshandlungen hat wiederum Rückwirkungen darauf, inwiefern Selbstbilder als angemessen oder korrekturbedürftig erscheinen. Darüber hinaus hat eine durch Reflexion veränderte Vorstellung von der eigenen Ordnung auch Effekte darauf, was als Kern einer Bedrohung diagnostiziert wird.

Reflexionsprozesse unterscheiden wir

  1. nach ihren Zielen: Soll Selbstverständlichkeit thematisierbar, Sinn in neuer Weise sicherbar oder das re-ordering legitimiert werden? Wir fragen
  2. nach den in ihnen sichtbar werdenden Deutungsmustern und dem darin angelegten Verhältnis von Kontingenz und Inkontingenz von Ordnungsaspekten sowie
  3. nach der Reichweite: Werden Teilaspekte von Ordnungen, wie Handlungsstrategien, Wahrnehmungsmuster, Institutionen, soziale Beziehungen, Identitäten, Wahrheitsbehauptungen angesprochen, oder geht es um den Sinn einer Ordnung als ganzen? Außerdem geht es
  4. um die einbezogene Personengruppe: Betrifft Reflexion dem Anspruch nach alle Akteure in einer sozialen Ordnung oder eher kleine Expertengruppen?