Uni-Tübingen

Ansatz und Innovationspotential ,Vormoderne‘

Die Programmatik der Anderen Ästhetik basiert auf folgender Arbeitshypothese: Alternative Vorstellungen des Ästhetischen lassen sich am ehesten dort eruieren, wo man den Bereich der expliziten Ästhetiktheorie bzw. ästhetischer Meta-Diskurse als dominanten Zugang verlässt. In der Konsequenz setzt das Vorhaben damit dreifach ‚anders‘ an:

(1) anders in der Zeit:

Die Probe auf den gewählten Ansatz haben primär diejenigen Zeiten zu erbringen, die von vornherein ohne eine kodifizierte ästhetische Makro-Theorie arbeiten (etwa Teile der griechisch-römischen Antike oder das europäische Mittelalter in seinen volkssprachigen Literaturen) und die das Vorhaben pragmatisch unter dem heuristisch zu verstehenden Sammelbegriff der ‚Vormoderne‘ fasst. Dabei wird keine Vor-Geschichte der modernen Ästhetiktheorie im Sinn einer ‚Inkubationszeit‘ anvisiert. Vielmehr soll gefragt werden, ob nicht gerade das durch die Zeitvorgabe ‚andere‘ Material zu differenten Aussagen und Auffassungen des Ästhetischen und seiner Funktionen führen kann. Bewusst erfolgt dabei in der ersten Förderphase die Fokussierung auf die vormoderne europäische Kulturlandschaft. Die Originalität der Aufgabe besteht zunächst darin, das Andere im Eigenen zu identifizieren, was inter- und transkulturell dann auch durchaus veränderte Anschlussstellen zu nicht europäischen Kulturen eröffnen kann.

(2) anders im Ort:

Bei der Suche nach einer ‚anderen‘ Ästhetik sind die Quellen- und Gegenstandsbereiche, auf die sich der Blick jenseits der traditionellen Ästhetiktheorie richten soll, entscheidend. Gesucht wird nach Zeugnissen, Formen und Konstellationen, in denen sich ästhetische Kommentare im Vollzug der Texte und Bilder, der Musik und Objekte, der institutionellen Praktiken und kulturellen Repräsentationen herausbilden. Dies gilt umso mehr, als dabei auch und gerade ästhetische Praktiken und Manifestationen außerhalb einer ausgewiesenen Artifizialität mitberücksichtigt werden sollen. So werden auch diejenigen Felder, Passagen, Hinweise und Spuren miteinbezogen, an denen sich ästhetische Fragestellungen und ihr Differenzpotential eher randständig herauskristallisieren, z.B. in Fachtexten, Gebrauchsgegenständen, religiöser Didaxe. Gerade durch den Blick auf scheinbar unspektakuläre Beobachtungsfelder im Kontext ganz anderer als ‚ästhetischer‘ Anliegen erhofft sich das Vorhaben, die ästhetischen Spielregeln in ihren fluiden, kontextabhängigen Bewegungen nachvollziehen zu können und dadurch die Kriterien des Ästhetischen in einer komplexeren Perspektive zu erfassen, als dies bisher möglich war.

(3) anders im Anspruch gesellschaftlicher Relevanz:

Der Ausgangspunkt bei Zeugnissen vor der Moderne führt zu Akten und Artefakten, die in der Regel in gesellschaftliche Handlungsvollzüge eingebunden sind (z.B. merkantile oder soziopolitische Repräsentation, religiöse Unterweisung, Sprachnormierung, Gebrauchszusammenhänge). So befinden sich vormoderne ästhetische Akte und Artefakte häufig in klaren Referenzbeziehungen zur Lebenswelt. Technisch-artistisches Gestaltungswissen und mehrdimensionale, gesellschaftsbezogene Funktion zeigen sich damit in enger Wechselbeziehung. Die Aussagedimensionen dieser Relation aufzudecken, ohne den Anspruch einer technisch-artistischen Eigenlogik einerseits, sozialer Funktionen andererseits zu verlieren, umschreibt die Aufgabe des Forschungsprogramms.