Uni-Tübingen

Das praxeologische Modell einer Anderen Ästhetik

Als interdisziplinäres Analyseinstrumentarium entwickelt der SFB das Forschungskonzept der ‚ästhetischen Reflexionsfigur‘ auf der Basis eines praxeologischen Modells von Austausch- und Transformationsprozessen. Ästhetische Akte und Artefakte werden dabei nicht nur in Relation gesehen zur Dimension des tradierten Form- und Gestaltungswissens, sondern auch zur Dimension sozialer Praxis. Daher bewegen sie sich als flexible Akteure zwischen den Ansprüchen technisch-artistischer Eigenlogiken einerseits und pragmatisch-historischer Alltagslogiken im Rahmen sozialer Praxis andererseits. Diese doppelte Ausrichtung ästhetischer Phänomene ist vielfach beschrieben, in der Regel jedoch in einem hierarchisierenden bzw. binären Wertungstableau modelliert worden. Das Vorhaben der Anderen Ästhetik will solche binären Oppositionen in dynamische Spannungsgefüge und Transformationsprozesse zurückverwandeln. Auf diese Weise soll ein Instrumentarium entwickelt werden, das auch und gerade die Besonderheit ästhetischer Phänomene der Vormoderne adäquat erfassen kann. Die folgende Abbildung veranschaulicht das zugrundeliegende heuristische Modell:

Das Modell geht von einem Verständnis aus, das ästhetische Akte und Artefakte an der Dimension des Autologischen auf der einen, der des Heterologischen auf der anderen Seite mit gleicher Optionalität partizipieren lässt. Unter der autologischen Dimension wird der Aspektbereich des zur Verfügung stehenden Form- und Gestaltungswissens im Sinn der technical skills verstanden, für den in der Tradition des klassischen rhetorischen Regelwissens und der Poetik der Begriff ars steht. Ihm gehören nicht nur die expliziten Kunstlehren (Poetiken, Rhetoriken, Proportionslehren) an, sondern der gesamte Fundus vorgängiger oder impliziter Regeln, Modelle, Topiken und Traditionen, die als praktisch-technischer Bezugspunkt der Produktion zu denken sind. Die heterologische Dimension ist dagegen auf Fragen der pragmatischen Ziel- und Zweckbestimmung, des sozialen Umfeldes und der gesellschaftlichen Kontexte bezogen. Entscheidend ist dabei die grundsätzliche Durchlässigkeit und Wechselwirkung beider Dimensionen. Ebendies erscheint für eine differenzierte und adäquate Beschreibung gerade vormoderner ästhetischer Phänomene in ihrer lebensweltlichen Eingelassenheit zentral.

Um die Hinweise zu erfassen, in denen Artefakte autologische wie heterologische Dimensionen spiegeln, ausstellen und diskutieren, fokussiert der SFB ‚ästhetische Reflexionsfiguren‘. Unter ‚ästhetischen Reflexionsfiguren‘ werden Konfigurationen verstanden, die sich an bzw. in konkreten Dingen, Texten, Praktiken oder Institutionen manifestieren und materialisieren und in denen die Spannung zwischen der Eigenlogik ästhetischer Akte und Artefakte und ihrer Verflechtung mit außer-ästheti­schen Räumen und Tatsachen, d.h. die dynamische Relation von autologischer und heterologischer Dimension sichtbar wird. Mit der Fokussierung von ‚ästhetischen Reflexionsfiguren‘ rückt ein feinmaschiges reflexives Ausdruckspotential ‚neben‘ der theoretisch fundierten expliziten Ästhetik in den Blick, über das sich eine ,andere‘ Ästhetik heuristisch erschließen und systematisch beschreiben lässt.