Uni-Tübingen

Attempto! 02/2023: Die andere Seite der Geschichte

Ihre Liebe zum Indischen Ozean entdeckte Jacky Kosgei in Mombasa. Als Masterstudentin kam sie 2017 für Feldforschung in Kenias Küstenstadt. „Wir beschäftigten uns mit ‚Storytelling‘ und führten Interviews mit Dorfbewohnern“, erinnert sie sich. „Ich selbst wuchs im Innenland Kenias auf. Erst damals wurde mir bewusst, wie stark der Ozean und die Erzählungen dieses Landes miteinander verknüpft sind. Ich begann, Wasser als ein Medium für das Erzählen von Geschichten zu sehen.“

Seitdem lässt sie die Faszination für beides nicht los: das Meer und die Macht der Geschichten – und ihre enge Verzahnung mit Kenias Geschichte und Kultur. Heute forscht sie an der Schnittstelle von Literatur, Kultur, Geschichte und Anthropologie, seit April 2023 als Juniorprofessorin am Tübinger Lehrstuhl „Anglophone Literary Cultures and Global South Studies“.

Als Literaturwissenschaftlerin arbeitet Jacky Kosgei mit Texten. Doch geht es um Kenias Kultur und Geschichte, bevorzugt sie die „Oral History“. Die Erzählungen, die sie interessierten, finde sie nicht in den offiziellen Texten, sagt sie.

Heiligtümer als Waffenlager

Die Küste Kenias ist schon viele Jahrhunderte Umschlagplatz für Händler, ein „Begegnungsort“, wie Kosgei sagt. Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Region unter anderem von den Portugiesen, den omanischen Arabern und der britischen Krone beansprucht. 1963 wurde Kenia unabhängig.

Doch auch 60 Jahre später sind die Spuren von Ausbeutung und Unterdrückung sichtbar. „In Schulen wird bis heute die Historie gelehrt, die von den ehemaligen Besatzern verordnet wurde. Geschichte und Kultur der einheimischen Bevölkerung werden weitgehend zugunsten arabisch und europäisch geprägter Erzählungen verdrängt“, sagt Kosgei.

Sie untersuchte dies am Beispiel der Festung „Fort Jesus“, das UNESCO-Weltkulturerbe liegt auf der Insel Mombasa. Vor 430 Jahren von Portugiesen erbaut, diente das Fort als Verwaltungsstützpunkt für die kenianische Küste. Besucher erfahren im Nationaldenkmal vieles zu Architektur und Nutzung von kenianischen Guides, die die offizielle Geschichte auswendig parat haben.


Die Spiritualität der Digo ist eng mit dem Meer verbunden, für sie ein Ort des Spirits, Geschenk Gottes, Schutzraum und Nahrungsquelle.


Mzee Nyembwe erzählt zu diesem Ort eine andere Geschichte. Der 82-Jährige Geschichtenerzähler aus dem Volk der Digo hütet Berichte, die ihm von Großvater und Vater überliefert wurden. Immer wieder saß Jacky Kosgei bei ihm und dokumentierte seine Erzählungen auf Suaheli.

Den Digo galt der Standort des Forts als spiritueller Ort, mit einer „von Gott geschaffenen“ Höhle, die durch einen Schrein geehrt wurde. Die Portugiesen hätten die Anwohner vertrieben und die Höhle entehrt, sagt Nyembwe. Die Rolle der Digo und ihre Historie zu diesem Ort sind seitdem aus der Geschichtsschreibung gestrichen und bleiben auch bei den Führungen durch das Weltkulturerbe unerwähnt.

Mit Bauten an Orten wie diesem sollten damals die Spiritualität und Kultur indigener Einwohner zerstört und ihre Gesellschaften destabilisiert werden, sagt Kosgei. So konnten Macht und auch eine neue Religion etabliert werden. Kein Zufall also, dass die Form des Forts einen Gekreuzigten darstellt und in der besagten Höhle Waffen gelagert wurden.

Kulturaktivisten sammeln traditionelles Wissen

Die Aufarbeitung von Kenias Kolonialgeschichte ist andernorts auf einem besseren Weg. Kosgei forschte auch an den „Shimoni Slave Caves“, von deren Strand aus Sklavinnen und Sklaven aus allen Landesteilen nach Sansibar verschifft und auf dem Markt verkauft wurden. Männer und Frauen wurden zu Tausenden in die fünf Kilometer langen, dunklen Höhlen gepfercht und musste auf allen Vieren zur Ablegestelle krabbeln.

In Shimoni hat die Kommune ein erfolgreiches Erinnerungsprojekt aufgebaut, wie die Wissenschaftlerin erzählt. Ortsansässige Guides führen Touristen durch die Höhlen, Spenden kommen der Gemeinde zugute. Eine Höhle dient als Gebetsraum für traditionelle Gottheiten. „Die Menschen vor Ort und ihr Blick stehen im Mittelpunkt.“

Bewusst setzt die Wissenschaftlerin auf Erzählungen in Suaheli, um den Fokus wieder zu öffnen. „Oral History“ gilt bislang vor allem der Kulturwissenschaft als wichtige Quelle der Erinnerungsarbeit, gerade um Menschen eine Stimme zu geben, die zur Sprachlosigkeit verurteilt wurden. Auch in Kenia fordern Volksgruppen mit ihren traditionellen Erzählungen offizielle Narrative heraus – und ihre kulturelle Identität zurück.

„Es geht letztlich darum, wer wir sind“, sagte Kosgei. Sie arbeitet auch mit „Kulturaktivisten“ zusammen: In der „Pwani Tribune“ und der „Hekaya Arts Initiative“ sammeln Kenianerinnen und Kenianer indigenes Wissen und dokumentieren es in digitalen Archiven. Auch teilen viele Interviewte sehr bewusst ihr Wissen mit Kosgei und verfolgen ihre weitere Forschung. „Ich habe das Gefühl, Verantwortung übernommen zu haben.“

Auf dem Weg zum „Multiverse“

An der Tübinger Universität diskutiert Jacky Kosgei in ihren Seminaren, wie sich die Studierenden Texten aus der afrikanischen Literatur annähern können. Gelegentlich fordert sie aber dazu auf, die Bücher beiseite zu legen. „Die Studierenden sollen sich Gedanken machen, welche Traditionen und Erzählungen ihnen begegnet sind. Ich möchte ihr Bewusstsein für vielfältige Perspektiven schärfen.“

Sie selbst wird weiter danach suchen. In Interviews sammelt sie Erzählungen zum Indischen Ozean. Unter anderem erklärten ihr Fischer, Seefahrer, Taucher und Muschelsammler, was das Meer für sie bedeutet. „Die Spiritualität der Digo ist eng mit dem Meer verbunden. Es ist für sie ein Ort des Spirits, Geschenk Gottes, Schutzraum und Nahrungsquelle“, erzählt sie.

Allein deshalb habe für die Küstenbewohner die Bewahrung der Meere höchste Priorität. Zu ihren Gesprächspersonen gehört auch die junge Radiomoderatorin Bahati  Ngazi, die sich für den Meeresschutz engagiert, indem sie Gedichte und Songs schreibt – Formen der „Oral History“, verbunden mit einem modernen Medium und einem hochaktuellen Anliegen.

Wenn die Wissenschaftlerin von ihrer Vision spricht, all diese Sichtweisen zu einem „Pluriverse“ zusammenzutragen, lächelt sie. „Das Pluriverse steht für eine Welt der unendlichen Möglichkeiten.

Das ist sehr ehrgeizig.“ Zumindest aber ist sie sicher, zu einem „Multiverse“ beizutragen. „Wenn viele Stimmen gehört und unterschiedliche Wissensformen anerkannt werden, schriftliche wie mündliche, dann haben wir etwas erreicht.“

Text: Antje Karbe
Photos: Jacky Kosgei


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