Uni-Tübingen

Zahlen begreifen

Zählen und Rechnen mithilfe der Finger ist in uns allen verwurzelt. Das nutzt die Bildungsforscherin Stephanie Rösch, um die mathematischen Fähigkeiten von Kindern gezielt zu fördern.

Sechs Kinder haben sich in einem Kindergarten in Metzingen um zwei Handschuhe gruppiert, in denen die Hände der Erzieherin Karin Kullen stecken. Die Handschuhe heißen Ed und Ted und sind mit Kulleraugen und lachenden Mündern verziert. Ed und Ted spielen regelmäßig mit den fünf- und sechsjährigen Jungs und Mädchen im Vorschultreff. Heute geht es um Addieren und Ergänzen bis zur Zahl Zehn. Aus den Spielen davor wissen die Kinder bereits, dass hinter Zahlen eine Anzahl steckt, also eine konkrete Menge. Und sie haben gelernt, dass sie diese Anzahl mit Fingermengenbildern darstellen können, indem die Finger entsprechend ein- und ausklappen. 

Los geht’s. Kullen öffnet eine kleine Schatzkiste mit zehn Glassteinchen. Die Kinder würfeln gegen Ed und Ted. Es geht darum, wie viele Glassteine sie bekommen. Karl, ein blonder Junge, der links von der Erzieherin an dem niedrigen Tisch sitzt, würfelt: Vier und Drei. „Sieben!“, ruft er und zeigt vier Finger seiner linken Hand und drei seiner rechten. Richtig, beziehungsweise fast richtig. Das Fingermengenbild, das Ed und Ted bilden, sieht ein bisschen anders aus. Kullens Tipp: „Wenn Du links fünf Finger und rechts zwei nimmst, siehst du die Sieben viel deutlicher.“ Wie auch immer. Die Kinder haben die Runde gewonnen und bekommen sieben Steine aus der Schatzkiste. Wie viele sind jetzt noch drin? Konzentriert strecken und krümmen sich jetzt viele kleinen Fingerchen. Anastasia weiß als Erste das Ergebnis: „Drei!“

 

Die Zahlenwelt intuitiv verstehen

Dr. Stephanie Rösch beobachtet das Spiel unauffällig aus etwas Abstand. „Hier sehen wir schön, dass Kinder ganz natürlich Finger zum Zählen nutzen. Aber es geht nicht nur darum, wie viele Finger es sind. Wichtig ist es, Fingerbilder zu bilden, um die Zahlenwelt intuitiv zu verstehen.“ Rösch ist Bildungsforscherin am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung der Universität Tübingen. Sie untersucht in ihrem Forschungsprojekt „Finger und Zahlen – Förderung basaler numerischer Fähigkeiten mithilfe der Finger“, wie körperliche Erfahrungen die Entwicklung mathematischer Fähigkeiten bei Kindern beeinflussen. Die Deutsche Forschungsgesellschaft fördert das Projekt für rund fünf Jahre. Im Fokus steht das Zählen und Rechnen mit den Fingern. Das Projekt soll helfen, wirksame Spielanregungen zu entwickeln, mit denen Kindergärten mathematische Fähigkeiten fördern können. Zudem liefert die Studie wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie Motorik, Sensorik und Mathematik zusammenhängen.

Für ihr Projekt hat Rösch das Förderprogramm mit Ed und Ted ausgearbeitet. Dieses erprobt sie ein halbes Jahr lang in insgesamt 26 Kitas. Nach einem Workshop zur Vorbereitung führen die Erzieherinnen und Erzieher dort die 16 Einheiten mithilfe konkreter Anleitungen selbstständig durch. 

Die Studie ist eine sogenannte randomisierte, kontrollierte Interventionsstudie. Diese Art von Studie gilt als „Goldstandard“ in der Forschung, denn einzelne Variablen werden gezielt verändert. So lässt sich genau ihre Wirkung bestimmen. Die teilnehmenden Kitas sind in drei Gruppen unterteilt: Einige Einrichtungen führen das fingerbasierte mathematische Training durch, in zwei Kontrollgruppen üben die Kinder mit einem mathematischen Training ohne Finger beziehungsweise erhalten eine nicht-mathematische sprachliche Förderung. Anhand spezieller Tests wertet Rösch zusammen mit Studierenden dann beispielsweise aus, wie die Förderung die feinmotorischen und mathematischen Fähigkeiten der Kinder beim Zählen und Rechnen während des Projektzeitraums verändert. „Mit diesem Design ist das die aktuell hochwertigste Erhebung in diesem Bereich. Bisher wurde keine vergleichbare Studie mit ähnlichem Detailgrad veröffentlicht“, so Rösch.

 


Einige der Kinder, die Zahlen gegenüber gleichgültig waren, zeigen nun großes Interesse. 20 Minuten stillsitzen ist kein Problem mehr.


Körperliche und kognitive Prozesse hängen zusammen

Der Ansatz der Bildungsforscherin basiert auf der Theorie der „embodied numerosity“ (verkörperte Numerosität). Diese besagt, dass abstrakte mathematische Konzepte auch aus körperlichen Interaktionen mit der Umwelt entstehen, beispielsweise durch Zählen und Rechnen mit den Fingern und lautes Aussprechen der Zahlen. „Motorische und sensorische Fähigkeiten, Sprache und weitere kognitive Prozesse wirken wechselseitig. Wie Finger und Zahlen genau zusammenspielen, ist aber noch unklar“, erklärt Rösch. „Deshalb untersuchen wir, wie Feinmotorik und Fingergnosie – die Fähigkeit, die eigenen Finger ohne Hinzusehen wahrzunehmen – frühe mathematischen Fähigkeiten beeinflussen.“ 

Hinsichtlich einer praktischen Förderung mathematischer Fähigkeiten sei ein Knackpunkt, dass die Kinder ein Teil-Ganzes-Verständnis entwickeln. „Es kommt darauf an, Zahlen als Mengen zu verstehen, die sich wiederum in Teilmengen zerlegen lassen.“ Die Kinder sollen mit allen Sinnen erfassen, wie sich die Zahlen bis zur Zehn zusammensetzen. Das erleichtert es ihnen, eine gute Rechenfähigkeit aufzubauen und vom bloßen zählenden Rechnen wegzukommen. 

Rösch veranschaulicht das anhand der Szene, die wir eben beobachtet haben. „Karl hat eine Sieben gewürfelt. Diese lässt sich in die Bestandteile Vier und Drei strukturieren; so, wie es die Würfel gezeigt haben. Karl soll nun aber nicht an einer Hand drei Finger und an der anderen vier ausstrecken, sondern eine bestimmte Fingersystematik nutzen, um die Mengen darzustellen: am Daumen einer Hand beginnend, bis an dieser alle fünf Finger ausgestreckt sind. Dann weiter am Daumen der anderen Hand.“ In den vorangegangenen Spielen hatten die Kinder zunächst gelernt, die Fingermengen erst zählend mit der Handinnenfläche nach oben zu bilden und dann die Handfläche nach unten auf den Tisch zu drehen. Das macht die Anzahl als Ganzes gut wahrnehmbar. Aber jetzt, gegen Ende der Förderung, kennt Karl die Fingermengen schon gut, deshalb muss er sie nicht mehr zählend bilden, sondern kann die entsprechenden Finger auf einmal ausstrecken.

„Das ist der entscheidende Schritt, der zu Beginn nicht einfach ist“, sagt Rösch. „Aber wenn die Kinder die immer gleichen Fingermengenbilder formen, fällt es ihnen am Ende leichter, ein Teil-Ganzes-Verständnis zu entwickeln. Dann reicht ein Blick, um zu erfassen: Sieben besteht aus fünf und zwei ausgestreckten Fingern und von der Sieben fehlen noch drei Finger, bis alle zehn ausgestreckt sind.“ 

Kinder können sich besser konzentrieren 

In der Praxis entfaltet die Methode bereits positive Wirkung. Einige der Kinder, die Zahlen gegenüber gleichgültig waren, zeigen nun großes Interesse, berichtet die Erzieherin Kullen. Auch die Konzentrationsfähigkeit habe sich verbessert. 20 Minuten stillsitzen, wie jetzt am Übungstisch, sei kein Problem mehr. Und: „Die Kinder wenden die Fingerstrategien auch bei anderen Gelegenheiten an, etwa beim Spielen in der Bauecke.“

Kullen und Rösch sind sich einig, dass es allgemein in der Frühpädagogik einen großen Förderbedarf gibt. „In der Vorbereitung auf die Schule bringt jedes Kind seinen eigenen Entwicklungsstand mit. Auch die Unterstützung im Elternhaus ist unterschiedlich“, sagt Kullen. Mit der Fingermethode könne sie jedes Kind individuell dort abholen, wo es steht. „Es ist wirklich spürbar, dass sich die Unterschiede in den mathematischen Grundkompetenzen Zählen, Mengenverständnis und erstes Rechnen angeglichen haben. Das hat einen wichtigen inklusiven Aspekt.“

Rösch hebt hervor: „Ein fingerbasiertes mathematisches Förderkonzept passt auch sehr gut für Kinder mit nicht deutschsprachigem Hintergrund.“ 

Sind Finger wirklich „nur zum Schreiben da“? 

Aber was sagen die künftigen Lehrerinnen und Lehrer zu der Fingermethode? Der verbreitete Satz „Die Finger sind zum Schreiben da, nicht zum Zählen“ richte sich weniger gegen die Finger, sondern gegen das zählende Rechnen, von dem man wegkommen möchte, ordnet Rösch ein. In der Unterrichtspraxis sei es manchmal so, dass die Lehrkraft sehe, wie ein Kind Finger abzählt, und dies verbiete. „Wenn das Kind aber noch keine anderen Strategien und noch kein Mengen- und Teil-Ganzes-Verständnis hat, zählt es dann halt irgendetwas anderes, etwa Stifte.“

Weltweit zählen Menschen mit Fingern 

„Unser Ansatz ist nicht, Finger abzuzählen. Sondern wir wollen Zahlstrukturen mit den Fingern transparent machen“, betont sie. Gleichzeitig will sie die Fähigkeit nutzen, die bei jedem Kind intuitiv vorhanden ist: „Fingerzählen ist etwas Natürliches. Kinder – und auch Erwachsene – zählen in den meisten Kulturen mit Fingern. Im deutschen Raum starten wir mit dem Daumen. England startet mit dem Zeigefinger. In manchen anderen Weltregionen beginnen die Menschen mit dem kleinen Finger.“ Ziel sei, ausgehend von diesem Fingergebrauch nicht das Zählen weiterzuführen, sondern das bildhafte Teil-Ganzes-Verständnis zu fördern.

Davon, dass Finger ein effektives Hilfsmittel sind, ist sie überzeugt. „Der große Vorteil aus wissenschaftlicher Sicht ist, dass beim Fingerrechnen der motorische und sensorische Prozess mit dem Inhalt übereinstimmt. Wenn Karl die Zahl Vier darstellt, streckt er in einer natürlichen Bewegung vier Finger aus. Wenn er dazu die vier Finger auf den Tisch tippt, die Finger anschaut und die Zahl Vier ausspricht, ist das eine multisensorische Einheit!“ Dagegen erfordere ein klassischer Rechenrahmen etwa mit Perlen eine Wischgeste an etwas Fremdem und damit einen Umweg. Und nicht zuletzt hat ihre Methode ein ganz praktisches Argument auf ihrer Seite: „Die Finger hat man immer dabei!“

Das Projekt: "Finger und Zahlen –  Förderung basaler numerischer Fähigkeiten mithilfe der Finger“ 

Dr. Stephanie Rösch leitet das Projekt am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen. Das Projekt mit einer Laufzeit von Juni 2020 bis Februar 2025 erforscht die Entwicklung mathematischer Basiskompetenzen bei Vorschulkindern mit dem Ansatz der „embodied numerosity“, wonach körperliche und sensorische Erfahrungen und die Entwicklung mathematischer Fähigkeiten zusammenhängen. Insgesamt nehmen 26 Kindertagesstätten an der Studie teil. Die ersten Ergebnisse der Studie werden voraussichtlich Ende 2024 veröffentlicht.

Text: Christoph Karcher


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