„Dogmatik-Lehrstühle werden traditionell mit Priestern besetzt“, sagt Johanna Rahner. Trotzdem hat sie als Frau den Ruf auf diese Professur am Institut für Ökumenische und Interreligiöse Forschung in Tübingen erhalten. Das spricht natürlich für Rahners Qualifikation, aber auch für die sehr liberale Einstellung in der Diözese Rottenburg-Stuttgart und des Bischofs Gebhard Fürst. Der nämlich darf bei der Berufung neuer Professoren mit entscheiden.
Rahners Forschungsgebiet ist die Dogmatik, also „die Wissenschaft, die mit guten Argumenten den christlichen Glauben begründen soll“, wie die Professorin es definiert. Daher ist es in ihrer Arbeit eine wichtige Frage, warum sich so viele Menschen vom katholischen Glauben abwenden oder womöglich nie dorthin gefunden haben. Rahner macht dafür den Verlust christlicher Traditionen verantwortlich – ausgerechnet in ihrer Generation sei dieser Bruch besonders stark spürbar -, aber auch Fehler der Kirche. Ein imposantes Beispiel dafür liefert die viel diskutierte Umfrage der katholischen Kirche zur Sexualmoral ihrer Gläubigen. Darin zeigte sich, wie weit die Vorstellungen der Kirchenleitung von der Lebenswirklichkeit der Gläubigen entfernt sind.
Die Kirche versäume es zudem, die Menschen bei der Entwicklung ihres Glaubens zu begleiten: vom naiven Kinderglauben hin zum rationalen Glauben von Erwachsenen. Dabei seien gerade Jugendliche immer noch bereit, sich in der Kirche zu engagieren. Rahner nennt als Beispiel die Aktion „72 Stunden“ des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend. Jugendliche arbeiten hier drei Tage lang ehrenamtlich an sozialen Projekten. „Auch das ist gläubiger Vollzug“, sagt Rahner.
Johanna Rahner wurde 1962 in Baden-Baden geboren und studierte in Freiburg i.Br. katholische Theologie und Biologie. Nach Lehrstuhlvertretungen unter anderem in Münster und Freiburg wurde sie 2010 Professorin an der Universität Kassel. 2014 erhielt sie den Ruf nach Tübingen. Hier ist sie nun Professorin für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie sowie Leiterin des Instituts für Ökumenische und Interreligiöse Forschung. Als Institutsleiterin strebt sie vor allem eine enge Zusammenarbeit mit dem Zentrum für islamische Theologie an.
Jörg Schäfer