Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2021: Alumni Tübingen

Gesellschaftliches Problembewusstsein schaffen

Alumna Andrea Fies arbeitet als Moderatorin beim deutsch-französischen Fernsehsender ARTE

Im Interview spricht Alumna Andrea Fies über ihre Arbeit beim deutsch-französischen Fernsehsender ARTE, ihre journalistischen Ansprüche und ihre Tübinger Zeit am Brechtbau.

Sie wussten schon früh, dass das Fernsehen das Medium ist, für das Sie arbeiten wollten. Woher kam Ihre Begeisterung?

Ich hatte schon immer großen Spaß am Umgang mit Sprache; das war es, das ich am besten konnte, das mich beflügelte. Dementsprechend habe ich mich nach dem Abitur entschieden, Allgemeine Rhetorik, Linguistik und Romanistik an der Universität Tübingen zu studieren. Während meines Rhetorikstudiums erhielt ich die großartige Möglichkeit, neben den theoretischen Seminaren auch verschiedene Praxisseminare zu besuchen, die mir eine berufsnahe Ausbildung ermöglichten. 

In den Praxisseminaren wurden die Studierenden früh dazu angehalten, sich in den verschiedenen Medien auszuprobieren. So war ich im Verlagswesen, bei Zeitungen, habe im Radio volontiert und beim Fernsehen Praktika gemacht. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik unterstützte diese Unterfangen, da es exzellente Beziehungen zu den verschiedenen Institutionen hatte. Während dieser Tätigkeiten habe ich schnell gemerkt, dass ich nicht alleine an meinem Schreibtisch sitzen wollte und meine Texte auch nicht nur mit mir alleine ausmachen wollte: Ich brauchte ein Gegenüber, ich brauchte ein Team. Dieses Gegenüber nahm ich im Fernsehen viel stärker wahr, als ich es jemals in den Printmedien verspürt hatte. Der größte Unterschied zwischen dem Fernsehen und den Printmedien ist jedoch, dass im Fernsehen alles in Teamarbeit geschieht. Der eigene Part ist nur einer von vielen: So arbeitet man bspw. mit Cuttern und Tonleuten zusammen und hält auch immer enge Absprachen mit der Redaktion. Das alles hat mich gereizt und so ist es das Fernsehen geworden. 

Wie kamen Sie zu ARTE?

Ich bin an der Grenze zu Straßburg groß geworden und so war Frankreich in meinem Leben schon immer sehr präsent. Nach Abschluss meines Studiums in Tübingen ging ich an die Sorbonne, Paris, um französische Literatur zu studieren. Dort erkannte ich jedoch, dass mir die theoretische Auseinandersetzung mit der französischen Sprache nicht genügte. Ich wollte mich in dieses Land hineinfinden. 1991, das Jahr, in dem ich Abitur machte, wurde auch ARTE aus der Taufe gehoben. 1991 war das Projekt Europa noch nicht sonderlich fortgeschritten: Es gab noch viel weniger gemeinsame Politikfelder und auch der deutsch-französische Alltag war viel weniger verwoben als er es heute ist. Die Idee von ARTE, Inhalte zu entwickeln, die sich an zwei Bevölkerungen richteten, begeisterte mich sofort und so bewarb mich dort auf eine Praktikumsstelle. Wie es der Zufall dann so wollte, war die ARTE Nachrichtenredaktion an einem Weihnachtsfest unterbesetzt, weswegen ich gebeten wurde, einzuspringen. Und so fing ich eines Heiligabends an, bei ARTE zu arbeiten und hörte seitdem auch nicht mehr auf. Mittlerweile gehöre ich zur ersten Familie der Mitarbeitenden, die blieb. Die Idee von ARTE überzeugt mich auch heute noch. 

Wie gestaltet sich Ihr Arbeitsalltag bei ARTE?

Mein Arbeitsalltag unterteilt sich in zwei Teile: der konkreten Arbeit an den Sendungen „ARTE Reportage“ und „ARTE Thema“, die ich moderiere und inhaltlich mitentscheide, und der Kommunikation mit den Autorinnen und Autoren und mit den Reporterinnen und Reportern, die uns ihre Vorschläge für zukünftige Sendungen unterbreiten. Zusätzlich scoute ich neue Talente, erkläre ihnen, wie ARTE arbeitet und führe sie an unseren Stil heran. Diese Kommunikation geschieht vor allem in Hinblick auf „Reportage“, einer wöchentlichen Sendung, die die aktuelle Weltlage im Blick hat und versucht, die Orte in Visier zu nehmen, die wir normalerweise nicht zu Gesicht bekommen. In Deutschland sind wir noch immer sehr deutsch-zentriert, was sich auch in den hiesigen Fernsehformaten abbildet. Dementsprechend gibt es auch nur wenige Reporterinnen und Reporter, die sich der internationalen Aktualität verschreiben.

Die Sendungen „ARTE Reportage“ und „ARTE Thema“ setzen sich konsequent mit geopolitischen Fragestellungen auseinandersetzen. Gab es in der Vergangenheit Themen, die Sie für besonders brisant erachteten und deswegen an die breite Öffentlichkeit tragen wollten?

Es würde mir schwerfallen, eine Liste mit den zehn Themen zu erstellen, die mir besonders am Herzen liegen. Sehr oft sind unsere Themen investigativer Natur, vor allem bei „ARTE Thema“. In „Thema“ brechen wir bewusst mit Illusionen und zerstören dabei häufig das Gefühl, dass wir doch eigentlich alles im Griff haben. Wichtig ist immer, dass ein besonderer Moment stattfindet, dass Menschen zu Wort kommen, die uns nicht mehr aus dem Kopf gehen – die uns auch davon überzeugen können, unser Handeln zu verändern. Diese Menschen sind entweder persönlich betroffen oder aber erzählen eine Geschichte, die das System, das sich hinter ihrem Leid verbirgt, entlarvt. Wir behandeln medizinische Themen, Verbraucherthemen, Frauenthemen – hier ist keines weniger wichtig als ein anderes. Mit unseren Sendungen wollen wir die Distanz, die wir zu den offensichtlichen Missständen dieser Welt verspüren, aufbrechen.

Durch die Sendung „Touch me“ erfahren wir, dass Sie sich auch für zeitgenössische literarische Werke interessieren. Welche begeistern Sie bis heute am meisten und warum? 

Ein toller Plot, eine spannende Beziehungskiste, gepaart mit einem brandaktuellen, schwierigen Thema – diese Kombination begeistert mich. Mein Lieblingsautor ist Ian McEwan, der in seinen ersten Romanen menschliche Abgründe beschrieb, mittlerweile jedoch fast schon journalistisch arbeitet und sich kritisch mit der Gegenwart auseinandersetzt. Umgehauen hat mich auch Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara, ein Werk, das durch unglaubliche kluge Beobachtungen besticht.

Kommen wir zu Ihrer Zeit in Tübingen. Wo haben Sie als Studentin am Liebsten Zeit verbracht?

Ich war auf der Wilhelmsstraße zu Hause. Auf dieser Straße haben wir uns alle ständig hin- und herbewegt. Und im Brechtbau habe ich praktisch gelebt. Dort habe ich studiert und unzählige Stunden in der Fakultätsbibliothek verbracht – ich bin morgens hinein und erst abends wieder hinaus. Es war eine sehr intensive Zeit und mit dem Fach der Allgemeinen Rhetorik hatte ich den absoluten Hauptgewinn gezogen. Die Theorieseminare, die Praxisseminare, die Vorlesungen von Walter Jens: All das hat mir das Gefühl gegeben, Teil eines besonderen Moments zu sein.

Wie hat Ihr Studium Ihren Blick auf die Welt verändert?

Das Studium hat mich Unerschrockenheit gelehrt und mir Vertrauen in meine eigenen Kompetenzen gegeben. Zudem hat es mich einen kritischen Blick auf die Kommunikationen um mich herum gelehrt. 

Welche Tipps würden Sie Studierenden geben, die fürs Fernsehen arbeiten wollen?

Lassen Sie sich radikal auf eine Sache ein und lernen Sie das Handwerk von der Pike auf! Man ist beispielsweise nicht einfach Dokumentarfilmer – zunächst lernt man, mit Inhalten umzugehen, sie zu bebildern, Sprache präzise einzusetzen. Es zahlt sich aus, mit kleinen Formaten anzufangen und in diesen groß zu werden. Und: stellen Sie sich nicht zu breit auf, konzentrieren Sie sich auf die Sache, für die Sie brennen. Sehr oft lese ich Lebensläufe, in denen ich mich nicht mehr zurechtfinde, da sie keinen roten Faden mehr erkennen lassen. 

Das Interview führte Rebecca Hahn