Wo es offene Angebote für Kinder gibt, nutzen Kinder diese gern – vor allem, weil sie selbst entscheiden können, was sie dort machen. Das zeigt eine Nutzungs- und Bedarfsanalyse von Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern der Universität Tübingen. Von Juli 2019 bis Ende 2020 hatte ein Team unter der Leitung von Dr. Mirjana Zipperle untersucht, wie viele Kinder offene Einrichtungen in Tübingen besuchen, was sie dort tun und welche Bedürfnisse sie haben. Die Stadt hatte die Studie beauftragt, weil immer mehr Kinder unter zwölf Jahren in offene Jugendtreffs kommen, die eigentlich für Ältere gedacht sind. Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse sollen die Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit angepasst werden.
Im Mittelpunkt stand dabei die subjektive Sicht der Kinder. Per Fragebogen gaben 352 Schülerinnen und Schüler im Alter von 8 bis 12 Jahren und deren Eltern Auskunft zu ihren Freizeitinteressen und wie sie offene Angebote nutzen. In sechs ausgewählten Einrichtungen fanden Gesprächsrunden statt, ergänzt durch eine „Fotosafari“, bei der Kinder ihre Lieblingsorte festhielten.
„Die Entscheidung der Stadt, den Weg über die Kinder zu gehen, ist für eine Auftragsforschung ungewöhnlich“, erklärt Dr. Zipperle. Gängig sei, dass man die Fachkräfte befragt, denn die direkte Einbeziehung von Kindern mache die Projektabläufe unkalkulierbarer. „Wir haben gesagt, wir machen das in der Grundhaltung einer partizipativen Kindheitsforschung: Die Kinder dürfen mitbestimmen, wie wir die Situation gestalten.“ In der Praxis bedeutete das, sich voll auf die Kinder einzulassen. „Wir können von Kindern keine langen Interviews erwarten“, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin. „Sie schildern ihren Alltag aus ihrer Logik heraus. Für uns bedeutet das ein Umgang mit etwas Fragmentarischem. Man muss „dran bleiben“ und an die Kinder glauben.“ Gefragt war Flexibilität: „Bei der Fotosafari haben wir pro Einrichtung einen Termin vereinbart. Das hat nicht funktioniert. Wir mussten zum Teil dreimal kommen." Aus forschungsökonomischer Sicht könne man das lästig finden. "Aber wir haben gemerkt, dass wir viel erfahren, wenn wir vor Ort sind und haben wie in einer Feldforschung Notizen gemacht - was nehmen wir wahr, wie begegnen uns die Kinder?“
„Unsere Studie zeigt, dass Kinder offene, flexible und vor allem selbstbestimmte Angebote wollen“, so Dr. Mirjana Zipperle. Sie deutet das als „Gegenwelt“ zum institutionalisierten Alltag der Kinder, der durch Ganztagesschule und stark strukturierte Hobbies eng durchgetaktet ist. In den offenen Angeboten hingegen können die Kinder kommen und gehen. Trotzdem seien auch in dieser elternfreien Zone erwachsene Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner gefragt, wie das Zitat eines befragten Jungen zeigt: „Wenn man daheim sagt, ich will was kochen, sagen die Eltern, „vielleicht nächste Woche“. Hier heißt es, „ja, kannst Du jetzt machen“.“ Eine weitere Erkenntnis ist, dass Kinder wohnortnahe Angebote brauchen – „wo Einrichtungen sind, nutzen Kinder diese auch.“
Die Stadt prüft nun, wie sie die Angebote für Kinder anpassen kann, zum Beispiel mit einem mobilen Angebot in unterschiedlichen Stadtteilen. „Kinder sind total stolz, wenn sie etwas erzählen dürfen“, sagt Dr. Zipperle. Die Pläne für eine gemeinsame Konferenz mit den Kindern wurden durch Corona durchkreuzt. Stattdessen hat das Forschungs-Team einen leicht verständlichen Film über das Projekt produziert. „Uns war wichtig, den Kindern etwas zurück zu geben und zu sagen: Ohne euch hätten wir keine Ergebnisse.“
Christoph Karcher