Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2022: Schwerpunkt

Lebendiger Austausch: China und die Universität Tübingen

Ein Überblick über Forschungskooperationen und -projekte mit China

Zurzeit unterhalten mindestens zwanzig Lehrstühle der Universität Tübingen Kooperationen mit Universitätsintsituten, wissenschaftlichen Akademien oder anderen Forschungseinrichtungen der Volksrepublik China. Neben langfristigen Großprojekten existieren auch punktuellere Formen der Zusammenarbeit mit kleinen Fachtagungen, Arbeitskreisen, gemeinsamen Publikationen und Doktorandenbetreuungen. Kooperationen mit China werden in vielen Fällen gefördert vom China Scholaship Council, aber auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dem Chinesisch-Deutschen Zentrum für Wissenschaftsförderung oder dem National Social Science Fund of China. Das fachliche Spektrum reicht von Forschungen zur biologischen Diversität über neue mikroskopische Techniken und  invasive Pflanzenarten bis zur geistigen Wirkung des Kirchenvaters Augustinus, von Bodenanalysen auf dem Tibet-Plateau und der Evolution des Menschen über Medikamente gegen neurodegenerative Krankheiten bis zur Geschichte der deutsch-chinesischen Wissenschaftskontakte in der frühen Neuzeit. 

Sehr viele deutsch-chinesische Wissenschaftskontakte laufen über die Tübinger Sinologie. Am Lehrstuhl von Prof. Gunter Schubert für Greater China Studies werden Politik und Gesellschaft Chinas erforscht. Gunter Schubert ist darüber hinaus Koordinator der ‚Triple Alliance for the Promotion of Area Studies‘, die im vergangenen Jahr zwischen der Universität Tübingen, der Freien Universität Berlin und der Universität Peking geschlossen wurde. Hier kooperieren die mit vergleichender Regionalforschung (area studies) befassten Institute der beteiligten Einrichtungen. Eine Web-Präsenz befindet sich im im laufenden Semester findet in diesem Rahmen ein erster digitaler Workshop-Reihe für Nachwuchswissenschaflerinnen und -wissenschaftler an den drei Universitäten statt. Gunter Schubert ist auch Initiator des ‚China-German Digital Research Network (CGDRN)‘, einer Plattform, auf der sich Forschende verschiedener deutscher und chinesischer Universitäten, die teilweise schon seit Jahre kooperieren, zu Fragen der lokalen Governance in China austauschen. Gegründet wurde das Netzwerk Anfang des vergangenen Jahres, um angesichts der Pandemie einen Forschungsdialog aufrecherhalten zu können.  

Fei Huang, Professorin für Geschichte und Gesellschaft Chinas, erforscht in einem Kooperationsprojekt mit Kollegen der Hangzhou Normal University Archivmaterial, das deutsche Archäologen entlang der Seidenstraße zutage gefördert haben. Der Auf- und Ausbau von Chinesisch als Schulfach in Deutschland und die Ausbildung von Chinesischlehrern steht für Achim Mittag, Professor für Chinesische Sprache, Literatur und Philosophie im Fokus seiner Aktivitäten. Anfang September fand in Tübingen die Tagung des Fachverbands Chinesisch e.V. der Chinesischlehrkräfte im deutschen Sprachraum statt, die Mittag gemeinsam mit dem China Centrum Tübingen (CCT) ausgerichtet hatte. Dabei wurde eine Tübinger Erklärung zu Entwicklung und Ausbau von Chinakompetenz in der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Im Sommersemester 2023 wird die Sinologie durcheine Juniorprofessur verstärkt: Emily Graf widmet sich kulturellen und literaturwissenschaftlichen Fragen des Chinas des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Die Anfänge des technisch-wissenschaftlichen Austauschs zwischen Europa und China in der frühen Neuzeit untersucht Hans Ulrich Vogel, emeritierter Professor für Geschichte und Gesellschaft Chinas in Zusammenarbeit mit dem Institut für die Geschichte der Naturwissenschaften der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.

Von Biodiversität bis Augustinus

Zu den Fachbereichen der Universität Tübingen, die intensive Kontakte mit China unterhalten, gehören auch die Geowissenschaften. Der Lehrstuhl für Bodenkunde und Geomorphologie von Professor Thomas Scholten ist am ‚Biodiversity–Ecosystem Functioning Experiment (BFE) China‘ beteiligt, einem der größten Waldexperimente weltweit. Die Tübinger Wissenschaftler erforschen gemeinsam mit Kollegen mehrerer chinesischer Akademie- und Universitätsinstitute die Biodiversität in subtropischen Wäldern des Landes. Ein anderes Projekt ist auf dem Qinghai-Tibet-Plateau angesiedelt: Hier geht es um die Frage, wie sich Klimawandel, Überweidung und Straßenbau auf den Boden und die Vegetation dieses besonders fragilen Ökosystems auswirken. Mit der Biodiversität beschäftigt sich auch ein Projekt, das am Beispiel des japanischen Staudenknöterichs die ökologischen Folgen invasiver Pflanzenarten untersucht. Hier kooperiert das Institut für Evolution und Ökologie der Universität Tübingen (Prof. Oliver Bossdorf) mit der Universität von Fudan und dem Botanischen Garten XTBG-Xishuangbanna sowie mit mehreren Universitäten in Europa und den USA. 

Mikroorganismen aus dem Meer als natürliche Waffen gegen neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz stehen im Mittelpunkt der Kooperation, die Prof. Stephanie Grond vom Institut für Organische Chemie gemeinsam mit der Guangdong Ocean University, Zhanjiang, unterhält. Das Ziel ist die Entdeckung bioaktiver Stoffe, die sich zur Bekämpfung von Erkrankungen wie zum Beispiel Demenz einsetzen lassen. 

Der Geschichte des frühen Menschen widmet sich das Projekt EDGE (Environments and energy use of early humans on the edge), in dem Hervé Bocherens, Professor für Biogeologie und sein Kollege Chris Baumann mit Wissenschaftlern der Universität Helsinki  und des Instituts für Wirbeltier-Paläontologie und Paläoanthropologie der Chinesischen Akademie der Wissenschaften zusammenarbeiten. Im Mittelpunkt steht die Frage, wann die Frühmenschen (Gattung Homo) begonnen haben, die Anpassungsfähigkeiten gegenüber einer Vielzahl von Umweltbedingungen zu zeigen, die den heutigen Homo sapiens kennzeichnen und seine Verbreitung und ökologische Dominanz ermöglicht haben. Dafür untersuchen die Forscher mit Hilfe von paläontologischen, archäologischen und isotopenchemischen Methoden sowie maschinellem Lernen Umwelt, Klima und Lebensbedingungen am nördlichen Rand der Ausbreitung der Frühmenschen im Pleistozän. China spielt hier eine wichtige Rolle, weil sich die nördlichsten archäologischen Fundstellen in Eurasien im Nihewan-Becken nahe Peking befinden.  

Gemessen an solchen zeitlichen Dimensionen liegt die Spätantike schon fast in der Gegenwart. Sie bildet den historischen Hintergrund für den Arbeitskreis „Augustinus-Forschung“, den Prof. Johannes Brachtendorf vom Katholisch-Theologischen Seminar ins Leben gerufen hat.  Hier geht es um den „Kirchenvater“ Augustinus, einen der wirkmächtigsten Denker des frühen Christentums, der einen prägenden Einfluss auf Martin Luther ausübte.  Wichtige Kooperationspartner sind die Huaqiao Universität (Xiamen), die Hunan Universität (Chengsha), die Sun Yat-sen Universität (Guangzhou) und die Peking Universität. Einer Auftaktveranstaltung 2019 in Tübingen („Augustinus im Dialog“), die sich dem aktuellen Forschungsstand in China und Deutschland widmete, sollen weitere Treffen abwechselnd in China und Deutschland folgen. Die erste für das Jahr 2021 an der Huaqiao Universität geplante Folgeveranstaltung musste auf die Zeit nach der Corona-Pandemie verschoben werden. Mit ähnlichen Problemen haben zurzeit auch andere Forschungskooperationen, die die Universität Tübingen mit chinesischen Instituten unterhält, zu kämpfen. Eine baldige Rückkehr zur Normalität ist, was viele deutsche und chinesische Wissenschaftler sehnlich herbeiwünschen.

Wolfgang Krischke