Als Fusionsbeauftragter hat Professor Dr. Jürgen Leonhardt die Zusammenführung der Fakultäten für Philosophie und Geschichte, für Kulturwissenschaften und für Neuphilologie zur Philosophischen Fakultät begleitet. Anschließend leitete er die neue Großfakultät 13 Jahre lang als Dekan. Jetzt ist er in den Ruhestand gegangen.
Herr Leonhardt, Sie haben Musikwissenschaft und Klassische Philologie studiert. Was hat letztendlich den Ausschlag für die Philologie bzw. Latinistik gegeben? Was reizt Sie an Ihrem Fach?
Es war überhaupt nicht vorgesehen, dass ich Latinist werde – ich wollte Musikwissenschaftler werden und habe auch ein volles Studium in diesem Fach absolviert. Später dachte ich: wenn ich schon nicht Musikwissenschaft mache, dann mache ich Griechisch – denn auch dieses Fach habe ich studiert. Dass ich am Ende doch bei der Latinistik gelandet bin, hat verschiedene Gründe.
Mein Spezialgebiet ist das Neulateinische. Latein ist bis ins 18. Jahrhundert hinein das gewesen, was Englisch heute ist. Und die Anzahl der lateinischen Texte, die nach der Antike entstanden sind, ist um ein Tausendfaches höher als das, was aus der Antike kommt: Die lateinische Literatur aus dem Mittelalter und der Neuzeit ist nicht irgendein ‚Nachleben‘ dieser Sprache, sondern – was die Menge angeht – das eigentliche Werk.
Und dennoch sind die neulateinischen Texte größtenteils nicht bekannt, im Gegensatz zur wunderbaren antiken Literatur, bei der jede Zeile publiziert ist. Ich liebe es, mit Quellen – alten Medien und Büchern – zu arbeiten, mir dabei vorzustellen und zu sehen, wie die Leute vor 500 Jahren miteinander kommuniziert haben. Das ist ein ganz starker Impuls für meine Forschung.
Im 17. Jahrhundert war Latein nicht das, was es heute ist: man lernt ein bisschen Grammatik in der Schule und kann dann zum Schluss ein paar Zeilen übersetzen. Latein war das war eine normale Sprache, in der man sich unterhalten hat, in der man geschrieben hat. Aber wie funktioniert linguistisch eine solche Sprache, für die es keine Muttersprachler gibt? – Diese Frage fasziniert mich, sie ist sehr spannend und ist in den letzten 20 Jahren sogar noch spannender geworden, denn wir haben im Moment ganz ähnliche, vergleichbare Probleme im Englischen. Englisch ist heute nicht einfach die Applikation dessen, was die Leute in London sprechen – es sind vielmehr ganz eigene linguistische Entwicklungen.
Sie sind 2004 nach rund 20 Jahren an ihren Studienort Tübingen zurückgekehrt…
Auch das war so nicht geplant, ich habe aber nichts dagegen gehabt, hierher zurückzukommen. Nach dem Studium bin ich nach München gegangen, wurde dort promoviert und habilitiert. Anschließend habe ich Professuren an den Universitäten Rostock und Marburg übernommen. Mein Ziel war aber schon, an eine süddeutsche Universität zu gehen - wenn sich die Gelegenheit dazu ergeben würde. Das hat vor allem auch persönliche Gründe: Ich stamme aus dem Schwarzwald, bin Süddeutscher, und auch meine ganze Familie lebt in Süddeutschland.
Dass es doch Tübingen geworden ist, war eher zufällig. Ich hatte mich zunächst gar nicht auf meine jetzige Professur beworben, da die Ausschreibung auf den ersten Blick nicht so richtig für mein Fachprofil passte. Kurz vor Ablauf der Frist wurde ich dann aber aufgefordert, mich zu bewerben – was ich dann auch getan habe.
Kurze Zeit später, 2008, haben Sie das Amt des Dekans der Fakultät für Kulturwissenschaften angetreten. Ein Jahr später wurden Sie Fusionsbeauftragter für die neue Philosophische Großfakultät, 2010 dann hauptamtlicher Dekan ebendieser Fakultät. Wie kam es dazu?
Zunächst schien es klar zu sein, wer das große Dekanat übernimmt. Plötzlich gab es jedoch eine neue politische Situation - wie das halt manchmal so ist. Überraschend wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, das zu machen. Auch andere wurden gefragt. Zum Schluss gab es vier Kandidaten und vier Wahlgänge. Am Ende ist es auf mich rausgelaufen, zu meiner eigenen Überraschung.
Ich habe kurz überlegt, denn es war überhaupt nicht mein Karriereziel, ein solches Amt zu übernehmen. Ich habe es dann am Ende gemacht, weil ich zum einen persönlich ein Interesse an konzeptionellen Fragen der Geisteswissenschaften habe. Zum anderen komme ich aus einem kleinen Fach und gerade die kleinen Fächer sind immer ein bisschen stärker daran interessiert, was an der Universität passiert. Aber wenn ich nicht gewählt worden wäre, wäre das auch völlig in Ordnung gewesen. - Dennoch bereue ich es gar nicht, dass Amt übernommen zu haben; es waren ganz spannende Jahre, in denen ich viele wunderbare Begegnungen mit Menschen hatte, die ich sonst nie kennengelernt hätte.
Einer der Vorteile eines hauptamtlichen Dekans ist, dass es eine Lehrstuhlvertretung gibt. Ich hatte also keinerlei offiziellen Pflichten am Seminar, und meine Kolleginnen und Kollegen hatten gleichzeitig keine Mehrbelastung durch mein Amt. Aber ich bin während meiner Amtszeit immer in der Forschung geblieben, ich habe das nie ganz aufgegeben in diesen 13 Jahren. Vieles musste ich dennoch zurückstellen, und das ist der für mich wichtigste Grund, dass es jetzt unbedingt für mich Zeit wird, aus dem Amt zu scheiden. Und auch für die Fakultät ist es gut, wenn nach so vielen Jahren neue Leute und ein neuer Stil kommen.
Was waren die größten Herausforderungen in den 13 Jahren Ihrer Amtszeit?
Die ganz große Herausforderung war natürlich, eine so große Fakultät zu strukturieren. Dazu muss man wissen, dass die Grundstruktur der Organisation und auch für die Mittelzuweisung aus dem Haushalt die Lehreinheit bildet: Die Juristen sind eine Lehreinheit, die evangelische Theologie ist eine Lehreinheit - und die Philosophische Fakultät besteht alleine aus 26 Lehreinheiten!
Gleichzeitig muss der Betrieb der Fakultät so gestaltet werden, dass die Kolleginnen und Kollegen in der Fakultät mit dem Betrieb möglichst wenig zu tun haben, sondern Zeit haben, ihre Forschungen zu betreiben und zu lehren.
Eine ganz wichtige Aufgabe für den Dekan oder die Dekanin ist es, allzu große Spannungen in der Fakultät zu vermeiden. Und die Abläufe so zu gestalten, dass die Leute nicht alle in jede Gremiensitzungen gehen müssen, weil sie denken, dass sonst – metaphorisch gesprochen - die Welt untergeht. Dazu gehört es, diese Sitzungen sehr gut vorzubereiten und – falls nötig – im Vorfeld bilateral oder auch in kleinen Gruppen Stimmungen zu sondieren. Wenn Entscheidungen schließlich in die Gremien kommen, sollten sie im Normalfall so abgeklärt sein, dass man sie in der Sitzung erläutert und anschließend abstimmt. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen man in den Gremien kontrovers diskutiert - aber auch das muss dann gut vorbereitet und vorher entsprechend angekündigt werden.
Wie bewerten Sie die Situation der Geisteswissenschaften heute generell und speziell in Tübingen?
Die Geisteswissenschaften sind immer gefordert, ihren Status zu behaupten, das ist schon seit mindestens 300 bis 400 Jahren so.
Die Geisteswissenschaften in Tübingen haben einen sehr guten Stand, in den Rankings schneiden wir sehr gut ab, sowohl deutschlandweit als auch international. Die Tübinger Geisteswissenschaften werben viele Drittmittelförderungen ein, auch in Bereichen, die nicht unmittelbar an der Exzellenzstrategie beteiligt sind. Ich denke da an verschiedene Sonderforschungsbereiche, mehrere ERC Advanced Grants oder auch an die Opus Magnum-Förderungen der Volkswagenstiftung, an der wir überdurchschnittlich beteiligt sind.
Ich muss aber auch sagen, dass die Ausstattung der Geisteswissenschaften mit Stellen und Professuren in Tübingen unterdurchschnittlich ist, wenn man sie mit anderen ähnlich großen geisteswissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland vergleicht. Ich würde mir sehr wünschen, dass sich der Personalbestand in der Fakultät so stabilisiert, dass wir hier wieder auf demselben Level wie andere Universitäten sind.
Wie schalten Sie ab, wenn Sie doch mal ein paar freie Stunden haben? Was sind Ihre Pläne für den Ruhestand?
Ich mache viel Musik, spiele Klavier und Orgel. Und das habe ich auch in meiner Zeit als Dekan gemacht – wenn auch zeitlich eingeschränkt.
Deswegen werde ich die Musik im Ruhestand ausbauen. Außerdem habe ich mehrere Drittmittelprojekte, denen ich mich wieder verstärkt zuwenden werde. Vor drei Jahren habe ich den Antrag für die Forschungsgruppe „De/Sakralisierung von Texten“ mitgetragen, an der ich mit einem eigenen Teilprojekt beteiligt bin. Und ich möchte mich noch um ein großes Buchprojekt kümmern, das bereits seit Jahren geplant ist.
Gibt es noch etwas, was Ihnen am Ende Ihrer Amtszeit persönlich auf dem Herzen liegt?
Ich wünsche meinen Nachfolgern alles Gute und bin sehr zuversichtlich, dass Sie den Job sehr gut machen werden. Ich wünsche mir, dass die Geisteswissenschaften auch in Zukunft einen entsprechenden nationalen und internationalen Rang haben – und Tübingen wirklich ein Ort der Geisteswissenschaften bleibt. Das würde mich sehr freuen.
Das Interview führte Maximilian von Platen
Professorin Angelika Zirker und Professor Dietmar Till treten die Nachfolge von Professor Jürgen Leonhardt an. Die Amtszeit von Zirker und Till beträgt fünf Jahre.
Angelika Zirker hat an der Universität des Saarlandes Anglistik, Germanistik und Romanistik studiert, wurde von der Universität Tübingen promoviert. Anschließend habilitierte sie sich mit einer Arbeit über William Shakespeare und John Donne. Sie übernahm Vertretungsprofessuren an der Freien Universität und der Humboldt-Universität in Berlin, bevor sie nach Tübingen an den Lehrstuhl für English Literatures and Cultures zurückkehrte. Im Sonderforschungsbereich „Andere Ästhetik“ ist Angelika Zirker Teilprojektleiterin.
Dietmar Till studierte an der Universität Tübingen Allgemeine Rhetorik, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie und promovierte anschließend in Allgemeiner Rhetorik. Er forschte an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ über Empathie und habilitierte sich an der Universität Göttingen. Eine Gastprofessur führte ihn an die University of Washington in Seattle. Seit 2011/12 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen.