25.01.2023
Für Promotion nach Tübingen: Im Gespräch mit der ukrainischen Paläoanthropologin und Unibund-Stipendiatin Nataliia Mytnyk
Nataliia Mytnyk ist Doktorandin in der Abteilung für Paläoanthropologie an der Universität Tübingen. Sie wurde im Westen der Ukraine in der Stadt Ternopil geboren und erhielt 2021 einen Master-Abschluss in Archäologie von der National University of Kyiv-Mohyla Academy. In ihrer Freizeit arbeitet sie ehrenamtlich an einem Projekt zur Steigerung der Popularität der archäologischen Wissenschaft und Archäologie der Ukraine in sozialen Netzwerken.
Was ist der Schwerpunkt Ihrer Forschung?
Meine Forschung konzentriert sich auf bioarchäologische Studien der Bevölkerung, die in der späten Bronzezeit und zu Beginn der frühen Eisenzeit auf dem Gebiet der Ukraine lebte. Ich beschreibe und analysiere die Knochen von Menschen, die um 1100-700 v. Chr. lebten. Auf diese Weise erfahren wir, woher diese Menschen kamen, wie sie aussahen, was sie im Laufe ihres Lebens taten, was sie aßen, woran sie erkrankten und woran sie starben.
Sie mussten Ihr Heimatland sehr kurzfristig verlassen. Zu welchem Zeitpunkt haben Sie sich entschieden, nach Deutschland/Tübingen zu kommen?
Ich habe nicht erwartet, dass Russland im 21. Jahrhundert das Territorium der souveränen Ukraine in großem Stil angreifen würde. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, war ich schockiert und konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was als Nächstes passieren würde. Meine Eltern waren sehr aufgebracht, und in der zweiten Woche nach Beginn des russischen Großangriffs begannen sie darauf zu bestehen, dass ich das ukrainische Hoheitsgebiet verlasse und mich an einem sicheren Ort aufhalte. Ich beschloss, für 2-3 Wochen nach Deutschland zu gehen, da ich Verwandte habe, die in Frankfurt am Main leben. Da Russland seine Aggression gegen die Ukraine auch nach 2-3 Wochen nicht einstellte, beschloss ich, länger in Deutschland zu bleiben. Und da ich schon früher über eine Promotion in Paläoanthropologie nachgedacht hatte, entschied ich mich für ein Promotionsstudium in Deutschland, namentlich an der Universität Tübingen.
Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert?
Sorgen und Ungewissheiten jeglicher Art. Als ich mich in Deutschland in Sicherheit befand, war ich sehr besorgt um meine Verwandten und Freunde, die in der Ukraine geblieben waren. Russland greift jeden Tag an, und es gibt nirgendwo auf dem Gebiet der Ukraine einen sicheren Ort, da die Raketen mehr als 2.000 Kilometer weit fliegen können. Und niemand weiß, wo die russische Rakete dieses Mal einschlagen wird - im Studentenwohnheim in Kiew, wo meine jüngere Schwester derzeit lebt, oder irgendwo im Westen der Ukraine, wo meine Eltern wohnen. Ich mache mir auch große Sorgen um Bekannte, die in verschiedenen Regionen der Ukraine leben, sowie um Freunde, die in der Armee dienen und die Ukrainer vor russischen Soldaten schützen. Es ist erschütternd, die brutalen Kriegsverbrechen zu sehen, die russische Soldaten an friedlichen Ukrainern begehen. Ich kann nicht verstehen, wie es möglich ist, Menschen so zu misshandeln und die unbewaffnete Zivilbevölkerung, die friedlich lebt und niemandem etwas zuleide tut, massenhaft zu töten.
Auch ich selbst war mit Unsicherheit konfrontiert - als die russische Invasion in vollem Umfang begann, war unklar, was ich tun und was ich erwarten sollte. Der Krieg hat viele meiner Pläne zerstört und mein Leben um 180 Grad gedreht.
Wie würden Sie die derzeitige Lage in der Ukraine beschreiben?
Die Lage in der Ukraine ist nach wie vor sehr schwierig. Russland greift weiterhin jeden Tag Ukrainer an und tötet sie. Obwohl seit dem Beginn der Großoffensive bereits mehr als ein Jahr vergangen ist, halten die Ukrainer dank der Hilfe westlicher Partner stand und versuchen, den russischen Angriff zu stoppen. Für die Ukrainer ist es im Moment sehr schwer, eine unglaubliche Zahl von Menschen ist gestorben oder verletzt, Tausende haben ihre Angehörigen verloren, russische Raketen haben die Häuser von Tausenden von Menschen zerstört, Millionen von Ukrainern haben durch den Krieg ihren Arbeitsplatz verloren. Und es werden jeden Tag mehr und mehr, bis Russland seine Aggression gegen die Ukraine einstellt. Das sind schreckliche Zahlen und große Tragödien. Es ist sehr schwer, das zu akzeptieren, vor allem für Kinder.
Welche Art von Unterstützung haben Sie in Deutschland und von der Universität Tübingen erhalten?
Die Universität Tübingen hat mir die Möglichkeit gegeben, meine Forschung im Rahmen meines Promotionsstudiums fortzusetzen. Ich möchte mich ganz herzlich bei meinen Betreuerinnen Prof. Dr. Katerina Harvati und Dr. Sireen El Zaatari bedanken, die mich bei meiner Doktorarbeit unterstützen. Mein Dank gilt auch Dr. Monika Doll und den Mitarbeiter:innen des Welcome Centers, die mich bei organisatorischen und bürokratischen Prozessen unterstützen. Ich danke meinen Kolleg:innen vom Lehrstuhl für Paläoanthropologie für all die Ratschläge und Unterstützung, die mir helfen, mich als Wissenschaftlerin unglaublich weiterzuentwickeln.
Die Universität Tübingen hat mich mit einem Stipendium des DAAD und dann mit einem Stipendium des Universitätsbundes finanziell unterstützt, was mir sehr geholfen hat, meine Doktorarbeit fortzusetzen. Ich möchte dem Universitätsbund, der Gemeinschaft seiner Mitglieder und allen Beteiligten, die mir dieses Stipendium ermöglicht haben, ein großes Dankeschön aussprechen.
Das Interview führte
Sandra Zepernick