Fragestellung
Für vergangene Perioden (das Zeitalter der Reformation, das Frankreich des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts) sind der soziale Ort, Funktionen, politische und religiöse Relevanz von Glocken, Glockenklang und Glockentürmen gut beschrieben worden. Aus dieser Perspektive allerdings können gegenwärtige Funktionen von Glocken in Gemeinden und Städten nur noch im Modus der Verfallsgeschichte beschrieben werden. An dieser Stelle setzt dieses Glockenprojekt an: Es soll nach den Funktionen, Orten und Deutungen von Glockenklang und Glocken in der Gegenwart gefragt werden, ohne sich durch das Muster der Verfallsgeschichte präjudizieren zu lassen.
Gliederung
Die Funktion von Glocken in historischer, vormoderner Zeit ist in verschiedenen Arbeiten ausreichend beschrieben worden. Sie wird am Beispiel der Reformationszeit kurz skizziert, um dann einen geschärften Blick auf die Veränderungen der Gegenwart werfen zu können. Es folgt auf diese Skizze eine Analyse von Friedrich Schillers Ballade „Die Glocke“, welche als eine zwischen Moderne und Mittelalter vermittelnde Umprägung der Glockendeutung von Religion und Theologie auf Biographie, Lebensgeschichte und Alltag gelesen werden kann. Im folgenden Hauptteil der Untersuchung sollen dann maßgebliche Veränderungen von Glockenkultur und -deutung in der Moderne herausgearbeitet werden.
Die Moderne, betrachtet unter dem Aspekt der Deutung von Glocken und Läuten, wird dabei charakterisiert durch Phänomene wie Beschleunigung, Individualisierung, Zunahme von Lärm, religiöse und weltanschauliche Pluralisierung.
Daraus ergeben sich fünf Perspektiven, aus denen heraus Glockenläuten und Glocken zu untersuchen wären: 1. In akustischer Perspektive ist die Moderne durch Zunahme von Lärm und Geräuschen charakterisiert. Glockengeläut ist in der Gegenwart im Kontext eines anderen Soundscape (Murray Schafer) zu hören, und auf diese Veränderungen reagiert man mit Läutetechniken, Änderungen der Läuteordnungen, Lärmschutzverordnungen etc.. 2. In temporaler Perspektive wurde das Glockenläuten zur Taktung und sozialen Koordination verschiedener Zeitmodelle genutzt. Diese Zeitstrukturierungsangebote werden modern zunehmend durch andere alltagsethische, politische, digitale Zeitperspektiven ersetzt oder ergänzt. Zeitverständnisse individualisieren sich, sie benötigen keine strikte soziale Koordination mehr. 3. In emotionaler Perspektive erzeugt Glockenläuten bestimmte Stimmungen: Es kann ein Gefühl von Heimat oder Erinnerung erwecken, aber auch aggressive Abwehr erzeugen. 4. In spatialer oder städtebaulicher Perspektive bilden Glockentürme bei der städtebaulichen Neukonzeption von Stadtvierteln oder -quartieren nicht mehr den selbstverständlichen Mittelpunkt, wie es in mittelalterlichen Orten noch selbstverständlich der Fall war. Moderner Städtebau ist anderen akustischen Konzepten verpflichtet als der Notwendigkeit, daß alle Bürger des Viertels den Glockenklang hören. 5. In theologischer Perspektive erscheint der Wunsch nach einer Rückkehr zur alten Dominanz des Glockengeläuts als eine nostalgische Sehnsucht nach dem akustischen Ausdruck einer vergangenen christlichen Ordnung (Stichwort: christliches Abendland), die sich allerdings unter den Bedingungen eines juristisch und sozial anerkannten religiösen Pluralismus als irreale Wunschvorstellung erweist.
Es ist davon auszugehen, daß sich die genannten Perspektiven gegenseitig beeinflussen und in Wechselwirkung zueinander stehen.