Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung (ZGD)

Forschungsprogramm

Kontext

Im Zuge der aktuellen Debatten um eine politische Rückabwicklung emanzipatorischer Errungenschaften in verschiedenen politisch-konservativen Kontexten (z.B. Re-Legalisierung häuslicher Gewalt in Russland, Angriffe auf ‚Planned Parenthood‘ und die Ehe für homosexuelle Paare durch die US-Regierung unter Donald Trump, Verankerung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt im baden-württembergischen Bildungsplan, Ablehnung einer Beschäftigung mit ‚Gender‘-Themen durch breite Teile des rechtkonservativen Spektrums) sowie des anhaltenden aktivistischen Einsatzes für Gleichberechtigung ist die Frage nach Gründen für das Festhalten an rein binär gedachter Geschlechtlichkeit und traditionell-heterosexuellen Rollenbildern hoch aktuell. Diese Auseinandersetzungen müssen im Kontext einer gleichzeitig ablaufenden Komplexitätsanreicherung in den (Natur-)Wissenschaften und gesellschaftlichen Bewegungen gesehen werden, die eine klare Zweigeschlechtlichkeit sowohl im wissenschaftlichen Kontext als auch in der Lebenserfahrung von Menschen in Frage stellen.

Seit dem Erscheinen von Judith Butlers wegweisendem Werk Gender Trouble (1990) ist das Geschlecht, so scheint es, hinreichend dekonstruiert worden. Dennoch erweist sich die Vorstellung einer nicht ‚nur‘ biologischen, sondern alle Lebensbereiche umfassenden Binarität des Geschlechts als erstaunlich beständig: Weder wissenschaftliche Evidenz noch gelebte Andersartigkeit scheinen den Glauben an die Zweigeschlechtlichkeit zu erschüttern. Im Gegenteil: Gerade im aktuellen Diskurs werden klassische Rollenbilder mit einer scheinbar neuen Dringlichkeit vehement verteidigt.

 

Theoretischer Rahmen

Das Ziel des Promotionsverbunds ist, dieser Persistenz der Annahme einer eindeutigen Zweigeschlechtlichkeit aus verschiedenen disziplinären Perspektiven und vor dem Hintergrund verschiedener historischer Konstellationen auf den Grund zu gehen. Im Zentrum steht die These einer ‚Kultur der Zweigeschlechtlichkeit‘, die annimmt, dass Vorstellungen rein binär ausgerichteter Geschlechts- und Sexualitätsformen eng an Dynamiken eines Kulturbegriffs im Sinne einer sozialen Identifikationsfunktion anschließen. Einerseits rekurrieren die aktuell vehement geführten diskursiven Verteidigungen einer binär gedachten Geschlechtlichkeit auf ‚traditionelle‘ Kulturbegriffe, die „normativ, hierarchisch und in der Regel national gefasst“ sind, auf die „Authentizität und Moralität und damit auf [die] inhärente Richtigkeit“ bestimmter Lebensmodelle pochen und „eine inhärente Kolonialstruktur aufweisen“ (Ammicht Quinn 2006, 265). Dabei entspringt die vehemente Setzung binärer Geschlechtsmodelle auch und gerade einem ‚moderneren‘, postkolonialen, pluralisierten und globalisierten Kulturbegriff. Dieser Kulturbegriff sieht zwar einerseits „in den Kulturkontakten Widerstand, Aneignung, unterschiedliche Interpretationen und konkurrierende Modelle“ (Ammicht Quinn 2006, 266), andererseits begünstigt er aber auch, gerade durch den Wegfall nationaler und ‚traditioneller‘ Identifikationsgrößen, ein vehementes Festhalten an anderen ‚Kulturgrößen‘ – wie zum Beispiel die vermeintliche Gewissheit der Zweigeschlechtlichkeit – und die Abgrenzung von allem als ‚anders‘ Wahrgenommenen. Eine ‚Kultur des Geschlechts‘ in der globalisierten Gegenwart kann also sowohl eine Pluralisierung von Lebensmodellen als auch eine immer vehementere Setzung geschlechtlicher Binaritäten zur Folge haben.

Die Erforschung derjenigen Mechanismen, die zur Aufrechterhaltung einer ‚Kultur der Zweigeschlechtlichkeit‘ beitragen, und zwar sowohl in zeitgenössischen als auch in historischen Kontexten, ist Ziel des Forschungsverbunds.

Um die oben geschilderte Gleichzeitigkeit verschiedener kultureller Formationen in Bezug auf eine Verteidigung binärer Geschlechtermodelle besser konzeptualisieren zu können, sollen die Ausführungen des britischen Literatur- und Kulturwissenschaftlers Raymond Williams herangezogen werden. Dieser nahm eine Reihe definitorischer Entscheidungen vor, die für die Kulturwissenschaften prägend wurden. Er dehnte den Begriff ‚Kultur‘ auf nichts weniger als die Gesamttextur menschlicher Sinngebungen und Handlungen aus, „a social process, creating specific and different ‚ways of life‘“ (Williams 1977, 19), also eine Vorstellung von ‚Kultur‘ als Alltag: „Culture is ordinary“ (Williams 1989). Kultur sei ein bedeutungsstiftendes Zeichensystem, „the signifying system through which necessarily (though among other means) a social order is communicated, reproduced, experienced and explored“ (Williams 1981, 13; kursiv im Original). Dieses Verständnis von Kultur führte zu einer erheblichen Ausweitung der Praktiken, die von der Kulturwissenschaft ins Auge gefasst werden können, einschließlich empirisch-sozialwissenschaftlicher Komponenten, die bis dahin strikt das Feld der Soziologie, Anthropologie und Ethnologie gewesen waren. Gleichzeitig wurde für die am Text arbeitenden Wissenschaften, besonders für die Literaturwissenschaft, die Vorstellung vom ‚Text‘ generalisiert, so dass letztlich alles, was einen Zeichencharakter hat, als ‚Text‘ verstanden werden konnte – eine ähnliche Weitung nimmt etwa zeitgleich in Frankreich Roland Barthes beim Aufspüren der ‚Mythen des Alltags‘ vor (cf. Barthes 2010).

Williams war immer ein historisch arbeitender Wissenschaftler, der in der Lage sein wollte, Entwicklungen auch auf der Mikroebene einzelner Positionen und Beiträge zu beobachten und zu verstehen. Dies macht ein dynamisches Modell von Kultur notwendig, das bei Williams nicht in eine Teleologie des ‚Fortschritts‘ oder der ‚Evolution‘ mündet. Dieses dynamische Modell geht vielmehr davon aus, dass historische Schichtungen älterer und neuerer Entwicklungen und Modelle gleichzeitig vorhanden sind, „dynamic interrelations, at every point in the process, of historically varied and variable elements“ (Williams 1977, 121). Er fasst dies in den Begriffen der „dominanten“, „residualen“ und „emergenten“ kulturellen Formationen (Meinungen, Ideen, Textformen, Lebensformen, etc.) (cf. Williams 1977, 121-122; 123).

Das heißt, ein ‚Kulturwandel‘ – und Kulturen sind immer im Zustand des Wandels – besteht letztlich aus einer Gleichzeitigkeit, in der sich ältere Formationen weiter erhalten (während sie gleichzeitig durch parallele Entwicklungen anders positioniert werden), dominante Formen sich intern auffächern in innovativere und konservativere Komponenten und gleichzeitig genuin neue, weder der residualen noch der dominanten Schichtung verpflichtete Formen emergieren (cf. Williams 1981, 203-205). Zu jedem gegebenen Moment, in dem ein Phänomen synchron beobachtet wird, muss also die Gleichzeitigkeit historischer Schichten angenommen werden, die im Verhältnis zueinander immer wieder neue Verbindungen eingehen. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass die ‚dominante‘ Kultur residuale und emergente Prozesse zwar bis zu einem gewissen Grad negativ sanktioniert, diese aber gleichzeitig ein notwendiger Teil dieser ‚dominanten‘ Kultur sind, die nie alle Formen menschlichen Handelns und Denkens abbilden kann (cf. Williams 1977, 123; 124-125).

Unser Promotionsverbund will sich die Frage nach dieser Gleichzeitigkeit neu stellen und zwar zunächst in Bezug auf die eklatante Gleichzeitigkeit verschiedener residualer, dominanter und emergenter Geschlechter- und Sexualitätsmodelle. Das heißt, die Forschenden in den einzelnen Projekten werden an verschiedenen, disziplinär verorteten Beispielen untersuchen, wie residuale Elemente zirkulieren und was ihre gesamtkulturelle Macht ist, wie dominante Definitionen und Praktiken sich intern erneuern oder gegen Veränderung absichern, oder wie genuin emergente Formen sich bilden und artikulieren und was dann mit ihnen geschieht. Diese Herangehensweise soll die Frage ermöglichen, wie Vorstellungen und Praktiken von Geschlecht und Sexualität nicht einfach ‚evolvieren‘, sondern weiterhin von residualen Elementen flankiert, ja geradezu flektiert und von emergenten Entwicklungen herausgefordert werden.

Zunächst steht im Zentrum der angedachten Perspektive die Erforschung dessen, was als ‚dominante‘ Version der Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität zu gelten hat und wie diese gegen emergente und residuale Versionen abgesichert ist. Somit stellt der Verbund grundlegend die Frage nach der Stabilität der Bourdieu‘schen Doxa. Hier bietet sich eine breite Fächerung von Theoriebildungen an, die mit Hilfe von verschiedenen Terminologien und jeweils etwas anders schattierten Herangehensweisen gemeinsam das Phänomen zu erfassen suchen, wie sich Überzeugungen halten, wie sie naturalisiert werden, wie sie letztlich als nicht weiter hinterfragte oder hinterfragbare Setzungen ihre Wirkungskraft entfalten.

 

Ammicht Quinn, Regina. „Kulturethik.“ Handbuch Ethik. Hg. Marcus Düwell, Christoph Hübenthal, Micha H. Werner. Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2006. 264-269.
Barthes, Roland. Mythen des Alltags. Berlin: Suhrkamp, 2010.
Williams, Raymond. Marxism and Literature. Oxford: Oxford University Press, 1977.
--. Culture. Glasgow: Fontana, 1981.
--. „Culture is Ordinary.“ Resources of Hope: Culture, Democracy, Socialism. London und New York: Verso, 1989. 3-18.