Deutsches Seminar

Geisteswissenschaftliches Schülerlabor Deutsch 2017

In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Seminar der Universität Tübingen bot das Fachreferat Deutsch am 16. Februar 2017 zum vierten Mal ein Geisteswissenschaftliches Schülerlabor an. Ziel der eintägigen Veranstaltung am Deutschen Seminar war es, besonders interessierte und begabte Schülerinnen und Schüler der Kursstufe I schon während ihrer Schulzeit mit Methoden und Praxis moderner geisteswissenschaftlicher Forschung bekannt zu machen. Sie erhielten an diesem Tag die Möglichkeit, die Literaturwissenschaft, die Linguistik oder die Mediävistik als Teildisziplinen des Faches Germanistik an der Universität im aktuellen Vollzug kennen zu lernen und sich selbst in Werkstätten in wissenschaftlichem Arbeiten zu üben.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Seminars der Universität Tübingen um Prof. Dr. Klaus Ridder (Mediävistik), Prof. Dr. Britta Stolterfoht (Linguistik) und Prof. Dr. Georg Braungart (Literaturwissenschaft) stellten Aktuelles aus Ihrer Forschungsarbeit vor und die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler wurden angeleitet, spezifisch geisteswissenschaftliche Methoden entsprechend handelnd zu erproben.

Dabei erforschten die SchülerInnen in diesem Jahr im mediävistischen Labor mit Dr. Christiane Ackermann den Umgang mit dem Fremden und Bilder vom Islam in Mittelalter und Früher Neuzeit. Dabei ging es auch um eine Geschichte der Medien, aber hauptsächlich darum, wie wichtig eine historische Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Polemiken ist. Im psycholinguistischen Labor mit Melanie Störzer und Holger Gauza wurde thematisiert, wie wir sprachliche Äußerungen verstehen. Dafür wurde ein Experiment durchgeführt und dessen Ergebnisse wurden gemeinsam ausgewertet. Behandelt wurde dabei auch der Umgang mit empirischen Daten. Im literaturwissenschaftlichen Labor von Dr. Stefan Knödler erlebten die SchülerInnen, wie eine Handschrift ins Buch kommt, also wie man ältere Texte ediert und kommentiert. Veranschaulicht wurde dies anhand von August Wilhelm Schlegels "Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst" und ihrer Mitschrift durch Rahel Varnhagen.

Ausführliche Berichte aus den Schülerlabors:

A. Literaturwissenschaftliches Labor mit Dr. Stefan Knödler

Wie kommt eine Handschrift ins Buch? August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen (1801-1804) und ihre Mitschrift von Rahel Varnhagen

Das Edieren und Kommentieren von älteren Texten, deren Verständnis beim heutigen Leser nicht mehr vorausgesetzt werden kann, ist eine zentrale Disziplin literaturwissenschaftlicher Forschung. Sie geht aller Interpretation voraus. Wie das funktioniert, wurde an einem Ausschnitt aus August Wilhelm Schlegels "Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst" (gehalten vor mehreren hundert Hörern in Berlin zwischen 1801 und 1804) und einer Mitschrift von Rahel Varnhagen veranschaulicht. Nach einer kleinen Einführung in das Lesen der deutschen Kurrentschrift anhand von Gedichthandschriften Mörikes, Hölderlins und anderen sowie einer Einführung in die deutsche Romantik allgemein und Schlegels Werk und seine Vorlesungen im Besonderen, wurden gemeinsam einige Seiten aus Rahel Varnhagens kleiner Mitschrift dieser Vorlesungen aus dem Winter 1801/02 transkribiert. Rahels Text ist nur zum Teil eine 'Mitschrift – manchmal notiert sie ein Stichwort aus Schlegels Vorlesungen –, hauptsächlich besteht das kleine Heft, das sie enthält, jedoch aus Briefchen, die sie ihren Sitznachbarn schreibt und auch aus deren Antworten. Der Einordnung dieser Notizen, die Berliner Gesellschaftsklatsch enthalten, kulturelle Neuigkeiten, Witze, die an Schlegels Vorlesungen anschließen oder Lästereien über andere Anwesende, war der letzte Teil des Tages gewidmet: Wie verhalten sich Schlegels Text und Varnhagens Mitschrift zueinander? Wie könnte man erklärungsbedürftige Passagen – Wörter, Namen, Anspielungen – erläutern? Was für Möglichkeiten gibt es, darüber zu bekommen?

B. Linguistisches Labor mit Melanie Störzer und Holger Gauza

Als Einstieg in das linguistische Schülerlabor befassten wir uns mit der Frage, warum man sich überhaupt mit der (deutschen) Sprache als wissenschaftlichem Gegenstand auseinandersetzen sollte, wo wir doch alle schon Deutsch können… Spannend aber ist, dass die Sprachfähigkeit (also die Möglichkeit, aus einem begrenzten Inventar immer wieder neue Äußerungen zu bilden) uns Menschen angeboren ist. Kinder erlernen ihre Muttersprache selbständig, ohne dass ihnen die Regeln hierfür beigebracht werden müssen: Wie werden Laute gebildet (Phonetik)? Welche Bedeutung kann welchem sprachlichen Ausdruck zugewiesen werden (Semantik)? Wie müssen wir Satzglieder in eine Abfolge bringen, damit uns unser Gegenüber versteht (Syntax)? Und was wird in bestimmten Situationen über die Bedeutung einer konkreten Äußerung hinaus mitverstanden (Pragmatik)?

Die Psycholinguistik bietet zudem die Möglichkeit, Sprache nicht nur zu beschreiben, sondern die Sprachfähigkeit experimentell zu erforschen. Neben einem Überblick über unterschiedliche Methoden, anhand derer man die Sprachverarbeitung untersuchen kann, hatten die Schülerinnen und Schüler im linguistischen Labor außerdem die Gelegenheit, an zwei verschiedenen Sprachexperimenten selbst als Probanden teilzunehmen. In Experiment I wurde die Lesezeit gemessen, die die Teilnehmer für bestimmte Segmente eines Satzes wie (1a) oder (1b) benötigten.

(1) a. Andrea hat erzählt, dass die Tante die Nichten begrüßt hat.

b. Andrea hat erzählt, dass die Tante die Nichten begrüßt haben.

Dabei ließ sich feststellen, dass man beim Lesen des Hilfsverbs haben in (1b) irgendwie „ins Stolpern“ gerät: Hier entsteht ein sogenannter „Garden-Path“-Effekt. Das liegt daran, dass der Leser für die Interpretation eines Satzes in der Regel annimmt, dass das Subjekt (als Handelnder) vor dem Objekt (das einer Handlung unterliegt) steht. Eine solche Analyse ist mit dem Input von (1b) zunächst vereinbar, sodass die Konstituente die Tante als Subjekt interpretiert wird, die Konstituente die Nichten dagegen als Objekt. Beim Verb angelangt, merkt der Leser, dass die gewählte Analyse nicht beibehalten werden kann: Es kommt zu Verarbeitungsschwierigkeiten; der Satz muss re-analysiert werden. In (1a) dagegen ist die gewählte Analyse, in der das Subjekt vor dem Objekt steht, auch beim Auftreten des Hilfsverbs noch passend, sodass der Satz leichter zu verarbeiten ist.

Experiment II dagegen war eine Studie zur Sprachproduktion, bei der die Schülerinnen und Schüler verschiedene Segmente des Satzes in der von ihnen bevorzugten Abfolge anordnen konnten. Es zeigte sich, dass es nicht nur für die Interpretation von Subjekten/Objekten eine Rolle spielt, an welcher Position im Satz sie stehen, sondern auch z.B. für die Lesart bestimmter Adverbiale.

(2) a. Peter sagt, dass der Koch die Tomatensuppe in 30 Minuten zubereitet.

b. Peter sagt, dass in 30 Minuten der Koch die Tomatensuppe zubereitet.

Während das temporale Adverbial in 30 Minuten in der späten Position, an der es in (2a) steht, tendenziell so interpretiert wird, dass es die Dauer der Zubereitung beschreibt, ist seine Lesart in der frühen Position in (2b) eher die, dass das Zubereiten in 30 min beginnt.

C. Mediävistisches Labor mit Dr. Christiane Ackermann und Johanna Deißler

Forschen mit wertvollen Originaldokumenten in der UB Tübingen

Im mediävistischen Labor setzten sich die Schülerinnen und Schüler anhand von deutschsprachigen Originalquellen mit Bildern des Islam auseinander, wie sie in der christlichen Kultur des Mittelalters und der Früher Neuzeit begegnen. Die jungen Forscherinnen und Forscher hatten Gelegenheit, mit Dokumenten aus dem 16. Jahrhundert zu arbeiten, welche die UB Tübingen eigens für diesen Zweck zur Verfügung stellte – Exponate im Wert von je 1.000–10.000 €. Anhand des historischen Materials konnten sie nachvollziehen, dass Vorurteile und nationale Stereotype kein modernes Phänomen sind. Vielmehr begegnen solche in allen Zeiten der Menschheitsgeschichte und entstehen durch Ängste und Unbehagen gegenüber dem, was unbekannt und fremd ist. So beruht auch das vormoderne Türkenbild auf einem Mechanismus, der genauso in den monströsen Völkern mittelalterlicher Weltkarten oder in mittelalterlichen Abenteuerromanen wie den Aliens im neuzeitlichen Science Fiction zum Ausdruck kommt. Die Grundlage von nationalen Zerrbildern sind Unkenntnis und das Bedürfnis nach einer Identität, danach, sich in einer Gruppe als Individuum aufgehoben fühlen zu können. Das zeigt sich nicht zuletzt in der aktuellen Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum, die eine jahrhundertealte Geschichte hat. Historisch findet sie einen besonderen Höhepunkt mit der Expansion des Osmanischen Reichs, in dessen Folge das christliche Europa das Bild vom "türkischen Bluthund" und von muslimischen Schreckgestalten ausprägt.

Reise in die Vergangenheit: Vertraute Feindbilder

Um die historische Persistenz von Feindbildern zu veranschaulichen, erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst einen Einblick in das sog. Weltbild des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die historische Reise nahm ihren Ausgang im Osten bzw. Orient, den das Mittelalter als geographischen und zeitlichen Ursprungsort begriff. Im äußersten Osten lag nicht nur das Paradies, er war auch der Ort der kommenden Apokalypse sowie die Heimat der Heiden und Monstren, wie sich anhand der berühmten Ebstorfer Weltkarte nachvollziehen lässt.

Die Karte zeigt die Welt als von Christus umfangenen Erdkreis, an dessen Rand seltsame Kreaturen hausen. Dort leben das apokalyptische Volk Gog und Magog sowie die ungläubigen Sarazenen, deren Körper und Gewohnheiten als Abweichung von der christlichen Norm vorgestellt wurden; der Orient war Ort des Schreckens, aber auch der Wunder und überbordender Pracht und des Mysteriums. Die physische Differenz seiner Bewohner – etwa die dunkle Hautfarbe der ‚Heiden‘ oder übergroße Gliedmaßen monströser Völker – galt als klimatisch bedingt. Die besondere, normabweichende Körperlichkeit korrespondiert, so glaubte man, mit einem andersartigen Verhalten und dem intellektuellem Vermögen der ‚Heiden‘.

Die ikonographische Tradition physischer Devianz von Menschen anderer Kulturen geht bis auf die Antike zurück und setzt sich in der Neuzeit fort; im Rahmen der sog. Türkenkriege, welche die Wahrnehmung von Nichtchristen nachhaltig prägte und die Osmanen als Heiden schlechthin erschienen ließ, wird sie Teil einer zunehmend medial komplex vermittelten politischen Propaganda. Nachdem die europäische Auseinandersetzung mit dem islamischen Orient einen ersten Höhepunkt in der Zeit der Kreuzzüge im 12. und 13. Jahrhundert erreicht hatte, führte die Konfrontation mit dem Osmanischen Reich zu einem zweiten im 15. und 16. Jahrhundert, der weitreichender und von einer neuen Intensität geprägt war. Prägnante Daten für eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber der islamischen Kultur sind die Einnahme Konstantinopels 1453, der Erfolg der Osmanen in der Schlacht von Mohács gegen Ungarn 1526 sowie die erste Belagerung Wiens 1529. Infolge dieser Ereignisse werden gängige Typisierungen der ‚Heiden‘ (re-)aktiviert, und es entsteht eine Flut verschiedenster Texte zum Thema. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, der neue Wege der Kommunikation eröffnet, ermöglicht die vergleichsweise massenhafte Textproduktion und eine breite Streuung der Informationen über die Osmanen und ihrer Negativdarstellungen. Die Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich brachte ihrerseits Imaginationen des Dämonischen und Monströsen hervor, basierend auf dem islamischen Feindbild, welches sich zuvor im Abendland über Jahrhunderte entwickelt hatte, das jedoch im Kontext der Auseinandersetzung mit den Osmanen eigene Formen ausprägt. Zeugnisse dessen sind die sog. Turcica, die zugleich die ältesten Zeugnisse des Buchdrucks mit beweglichen Lettern darstellen.

Arbeit im Labor: Historisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit frühen Zeugnissen des Buchdrucks

Aus diesem literarischen Feld der Turcica speiste sich die Auswahl der historischen Dokumente für das Schülerlabor, die einen Eindruck von der gesellschaftlichen Breite der Thematisierung und der antiosmanischen Polemik als wirksames politisches Instrument geben konnte. Durch die Auseinandersetzung mit den Turcica erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer überdies einen Einblick in die Geschichte der Medien und lernten, alte Druckschrift zu lesen. Im Rahmen der betreuten individuellen Arbeit mit den Texten stellten die jungen Forscherinnen und Forscher die Grunddaten der alten Drucke zusammen und transkribierten die nicht immer leicht zu lesenden Titel der historischen Dokumente. Auf Postern fassten sie die Daten zusammen und stellten die Inhalte ihrer Gegenstände dar, die am Ende im Plenum allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des geisteswissenschaftlichen Labors präsentiert wurden. Anhand des Umgangs mit den alten Drucken wurde deutlich, wie wichtig eine historisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Polemiken sein kann, die unsere aktuelle politische Diskussion immer noch und immer wieder bestimmen.