Uni-Tübingen

F02: Von karolingischer Ordnung zur „société féodale“? Bedrohte Ordnung und der Wandel der karolingischen Welt

Projektmitarbeiter*innen:
Isaac Smith, M.A.
Doktorand
Dr. Christoph Haack
Postdoc

Fachgebiet: Mittelalterliche Geschichte

Das Teilprojekt setzt ein Vorhaben fort, das seit Beginn der SFB-Förderung den Wandel der karolingischen Welt bis ins sogenannte Hochmittelalter untersucht. In der ersten Förderperiode haben wir uns in einem Regionalvergleich zwischen Norditalien, Westfrankreich und Südwestdeutschland auf jene Bedrohte Ordnung am Ende unseres Untersuchungszeitraums um 1100 konzentriert, die von der bisherigen Forschung je nach nationaler Leitperspektive als Folge der „Gregorianischen Reform“, der „société féodale“ oder des „Investiturstreits“ betrachtet worden ist. In der aktuell laufenden zweiten Förderperiode haben wir uns der Bedrohten Ordnung um 900 zugewandt: Sie war gekennzeichnet durch das Ende des karolingischen Monopols auf Königsherrschaft, blutige Adelsfehden, Normannen-, Sarazenen- und Ungarneinfälle und tiefgreifende Veränderungen in der Herrschaftspraxis. Auch hier wird unsere Forschung durch einen Vergleich verschiedener Regionen strukturiert, für welche die Bedrohungen in je eigener Weise von Bedeutung waren: Wir untersuchen die Provence, Lotharingien und Rom. 
Nachdem wir die äußeren Pole unseres Untersuchungszeitraums mit dem sich schärfenden Modell des SFB analysiert haben, wenden wir uns in der dritten Förderperiode nun der Bedrohten Ordnung um 1000 als Fallbeispiel zu. Für die Jahre zwischen ca. 980 und 1030 hat die Mediävistik für Frankreich und Norditalien einen raschen und tiefgreifenden sozialen Wandel diagnostiziert. Binnen nur einer Generation habe sich eine „mutation“, wenn nicht gar eine „révolution féodale“ vollzogen, die die gesamte Ordnung in West- und Mitteleuropa dramatisch verändert und recht eigentlich erst die mittelalterliche ‚Feudalgesellschaft‘ hervorgebracht habe. Dieses Bild war in der internationalen Mediävistik lange unhinterfragt, ist seit den 1990er Jahren aber heftig in die Diskussion geraten. Die Debatte ist allerdings fast ausschließlich für Frankreich, Nordspanien (Katalonien) und Italien geführt worden, nicht für die ostrheinischen Teile des ehemaligen Karolingerreiches; und sie ist auch in der deutschen Mediävistik bisher kaum virulent gewesen. 
Vor diesem Hintergrund verfolgt das Teilprojekt folgende drei Ziele: 
1) Mit Blick auf das Gesamtvorhaben des SFB möchten wir die bisher unter den Stichwörtern der „mutation“ bzw. „révolution féodale“ diskutierten Wandlungen um das Jahr 1000 als einen prominenten Testfall in unsere gemeinsame Arbeit am Modell Bedrohter Ordnung einbringen. 
2) Trotz aller empirischen Detailforschung sind die Gesamtdeutung und Erklärung der Wandlungsprozesse um das Jahr 1000 in der Mediävistik noch immer zutiefst umstritten. Die Forschung hat bisher vor allem den sozialen Wandel und den Bruch der Routinen diskutiert, noch kaum jedoch die Wahrnehmung und Kommunikation der Akteure untersucht, die diese Phase durchlebten und gestalteten. Aus Sicht des SFB kann man formulieren: Sowohl die Bedrohungskommunikation als auch der Zusammenhang zwischen Diagnose, Mobilisierung und Bewältigungspraxis sind noch nicht hinreichend erforscht. Wir erwarten deshalb, dass das SFB-Modell eine neue, weiterführende Perspektive auf einen epochalen Umbruch in der europäischen Geschichte eröffnet. 
3) Als Ergebnis der Gesamtlaufzeit des Teilprojekts soll außerdem die Transformation der karolingischen Welt und die Entstehung des lateineuropäischen Mittelalters von ca. 900 bis ca. 1100 in einem Essay mit Hilfe des Modells Bedrohter Ordnungen neu perspektiviert werden. Aktuell zeichnet sich in der Mediävistik die Notwendigkeit ab, die alten, seit dem 19. Jahrhundert etablierten Periodisierungen zwischen Früh- und Hochmittelalter zu überdenken: Die Spätantikeforschung hat sich als eigenes Feld etabliert und die Zuständigkeit der Alten Geschichte teils bis 800, teils auch bis zur Jahrtausendwende postuliert. Auch im Rahmen der Diskussion über die „révolution féodale“ ist bereits – wenngleich mit anderen Argumenten – ein Ende der Antike erst um das Jahr 1000 behauptet worden. Angesichts dessen wird der Untersuchungszeitraum unseres Teilprojekts gegenwärtig als eine neue, wichtige Transformationsphase Europas diskutiert, aus der recht eigentlich erst das „mittelalterliche“ Europa hervorgegangen sein könnte. Indem wir – gestützt auf unsere früheren Regionalvergleiche um 900 und 1100 – diese diachrone Abfolge von Umformungen insgesamt neu reflektieren, hoffen wir, nicht nur zu einem aktuellen Forschungsfeld der Mediävistik, sondern auch zur Leitfrage des SFB nach der Neuordnung historischer Zeiten und Räume beitragen zu können. Da das Teilprojekt – mit Blick auf diachrone Interdependenzen – die Dynamiken von Bedrohungsdiagnose, Mobilisierung und Bewältigungspraxis untersucht, ist es im Projektbereich F eingeordnet.