Uni-Tübingen

attempto online Forschung

23.10.2023

Das menschliche Gehirn neigt zur Abstraktion

Tübinger Forschende können Hirnsignale über abstrakte Entscheidungen auslesen – auch während einfacher Wahrnehmungen und Handlungen.

Eine Probandin im MEG

Das menschliche Gehirn kodiert Entscheidungen unabhängig von den motorischen Handlungen, mit denen sie ausgeführt werden – selbst in Situationen, in denen eine solche Abstraktion gar nicht nötig ist. Das hat ein Forschungsteam um Studienleiter Professor Dr. Markus Siegel und Erstautor Florian Sandhäger vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, der Universität Tübingen und dem Universitätsklinikum Tübingen herausgefunden. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal PLOS Biology veröffentlicht.

In der aktuellen Studie untersuchte das Team die Hirnprozesse, die Sinnesentscheidungen – etwa, ob eine Ampel im Gegenlicht grün oder rot leuchtet – unterliegen. Insbesondere stellten sie die Frage, ob auch Sinnesentscheidungen, die an eine bestimmte motorische Handlung gebunden sind, auf abstrakte, handlungsunabhängige Weise getroffen werden. Eine bisher ungeklärte Frage: einerseits sind Menschen in der Lage, hochabstrakte Entscheidungen zu treffen, die gar keine oder eine noch unbekannte Handlung nach sich ziehen, andererseits führen viele alltägliche Entscheidungen direkt zu einer bestimmten und stets gleichen Handlung.

Um dies herauszufinden, verwendeten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen ausgeklügelten Versuchsaufbau. Die Probandinnen und Probanden mussten wiederholt entscheiden, ob ein auf einem Bildschirm angezeigtes Muster sich nach unten bewegte, oder nicht. Um herauszufinden, welche Aspekte der Hirnaktivität mit der Entscheidung selbst, und welche nur mit ihrer Mitteilung zusammenhingen, sollten die Versuchsteilnehmenden die gleiche Entscheidung durch das Drücken unterschiedlicher Knöpfe mitteilen.  Darüber hinaus erfuhren die Versuchsteilnehmenden zu verschiedenen Zeiten im Entscheidungsprozess, welcher Knopf für welche Entscheidung gedrückt werden musste. So konnten sie manchmal zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits planen, welchen Knopf sie letztendlich drücken würden, und manchmal erst danach.

Dabei zeichnete das Team die Hirnaktivität der Probanden mit einem Magnetenzephalographen (MEG) auf. Bei der Magnetenzephalographie werden die durch Gehirnaktivität generierten Magnetfelder außerhalb des Kopfes gemessen. Diese Magnetfelder sind um ein Vielfaches kleiner als das Erdmagnetfeld oder die durch elektrische Geräte verursachten Magnetfelder, was die Messung schwierig macht. Am Tübinger MEG Zentrum konnte diese Messung mittels hochsensitiver Magnetfeldsensoren in einem speziellen magnetisch abgeschirmten Raum durchgeführt werden.

Die in ihrer Entstehung befindlichen Entscheidungen aus den gemessenen Daten auszulesen, war den Forschenden mittels einer Technik des maschinellen Lernens möglich. Durch eine neuartige Methode konnten sie die den Entscheidungen zugrunde liegende Hirnaktivität in verschiedenen Situationen miteinander vergleichen. "Egal ob die passende Handlung schon bekannt war oder nicht – die Hirnprozesse erschienen identisch", so Erstautor Sandhäger. Dies deutet darauf hin, dass Entscheidungen im menschlichen Gehirn grundsätzlich auf abstrakte, handlungsunabhängige Weise getroffen werden.

Die Ergebnisse tragen zum grundsätzlichen Verständnis von Entscheidungsprozessen und ihren neuronalen Grundlagen bei. "Entscheidungsprozesse sind allgegenwärtig. Sinnesentscheidungen, wie die in dieser Studie untersuchten, bilden die Grundlage unserer Wahrnehmung, unseres Bewusstseins und unseres alltäglichen Handelns. Und Abstraktion ist eine bedeutende Fähigkeit des Menschen", sagt Sandhäger. "Darüber hinaus", betont Studienleiter Siegel, "ist ein besseres Verständnis der neuronalen Grundlagen von Entscheidungen auch essenziell für die Entwicklung neuer Therapien von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen, die mit einer beeinträchtigten Entscheidungsfindung einhergehen."

Um an die aktuellen Ergebnisse anzuknüpfen, arbeitet das Team bereits an mehreren weiterführenden Studien. "Uns interessiert ganz grundlegend, wie das Gehirn es uns ermöglicht, basierend auf externen Reizen, Überzeugungen, und Erinnerungen flexibel Entscheidungen zu treffen", so Sandhäger.

Markus Siegel

Originalpublikation: 

Sandhaeger F, Omejc N, Pape AA, Siegel M (2023) Abstract perceptual choice signals during action-linked decisions in the human brain. PLoS Biology 21(10):e3002324
https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3002324

Kontakt: 

Prof. Dr. Markus Siegel 
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung 
Universität Tübingen 
Universitätsklinikum Tübingen 
markus.siegelspam prevention@uni-tuebingen.de
 

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