Mittlere und Neuere Kirchengeschichte

SFB 437 "Kriegserfahrungen"

Der Krieg ist eben kein ‘weltlich Ding’ (M. Luther), sondern in den abendländischen Gesellschaften der Neuzeit ist die Frage nach der Erfahrung des Krieges von der Frage nach der Erfahrung von Transzendenz nicht zu trennen. Kriegserfahrung wird über weite Strecken als religiöse Erfahrung formuliert. Der Projektbereich “Religion und Kriegserfahrungen” wollte zu einem konfessions- und religionsvergleichenden Phasenmodell beitragen, welches die Entwicklung des Verhältnisses von Krieg und Religion vom 16. bis ins 20. Jahrhundert rekonstruiert. In diesem Modell gilt es die These einer Säkularisierung des Kriegsverstehens zu überwinden.

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Sonderforschungsbereich 437: "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", Teilprojekt A1/G1

Religion und Kriegserfahrungen

Laufzeit: 2002-2008

“Mir ist so bang. Die Welt geht unter. Gott helfe uns”, schreibt 1647 ein evangelischer Stadtkommandant, der französische Truppenbewegungen beobachtet. “Sollten wir hier draußen fallen, dann im Kampf für die christliche Kultur (für keine andere)...”, schreibt ein katholischer Soldat 1943 an der Ostfront. Der Krieg ist eben kein ‘weltlich Ding’ (M. Luther), sondern in den abendländischen Gesellschaften der Neuzeit ist die Frage nach der Erfahrung des Krieges von der Frage nach der Erfahrung von Transzendenz nicht zu trennen. Die Arbeitsergebnisse der ersten und zweiten Antragsphase des SFB “Kriegserfahrungen” bestätigen unsere Grundannahme: Kriegserfahrung wird über weite Strecken als religiöse Erfahrung formuliert. Im Anschluss daran will der Projektbereich “Religion und Kriegserfahrungen” in der dritten Antragsphase zu einem konfessions- und religionsvergleichenden Phasenmodell beitragen, welches die Entwicklung des Verhältnisses von Krieg und Religion vom 16. bis ins 20. Jahrhundert rekonstruiert. In diesem Modell gilt es die These einer Säkularisierung des Kriegsverstehens zu überwinden.

Leitperspektiven zur Erschließung des Themas

  1. Eine erste Leitperspektive fragt nach der Religion bzw. Konfession als unmittelbarem Kriegsgrund.
  2. Eine zweite Leitperspektive fragt nach Begründung und Bewältigung des Krieges durch Religion dort, wo diese nicht unmittelbar ‘Thema‘ und Ursache des Konflikts war. Kulte und Sinnstiftungsangebote erfüllten gleichzeitig eine Funktion auf der individuellen wie auf der gesellschaftlich-politischen Erfahrungsebene. Schutz und Entlastung auf der einen, Ideologisierung und ‘Transzendente Alliierte’ auf der anderen Seite gehören zusammen; darum haben wir unsere Hermeneutik fortentwickelt und wollen Legitimation und Konsolation nicht mehr als Gegensätze konstruieren.
  3. Die dritte Leitperspektive thematisiert die erfahrungsbestimmende Wirkung von Religion, wo sie in Konkurrenz mit säkularen Mustern auf die Kriegstypologisierung einwirkte: In welcher typologischen Gestalt ein Krieg erfahren wurde – als Religions- und Konfessionskrieg, als Staatenbildungs-, Revolutions- oder Befreiungskrieg, als Nations- oder Weltkrieg –, hing wesentlich von je religiös oder säkular getönten individuellen und gruppengebundenen Dispositionen ab. Ein und derselbe Krieg konnte also je nach Erfahrungshintergrund typologisch ganz unterschiedlich eingeordnet werden. Die jeweiligen Einordnungen des Krieges wiederum zogen entsprechend unterschiedliche Deutungen von Kriegserfahrungen nach sich. Keineswegs liegt hier eine schlechthinnige Ablösung der einzelnen Deutungsmuster vor, die sich als Säkularisierung von Kriegserfahrung lesen ließe.
  4. Eine vierte Leitperspektive befasst sich mit jenen erstmals um 1800 auftretenden Kriegen, die sich mit ihren als “Letztwert” gefassten revolutionären Stinnstiftungen gegen die Religion der Betroffenen richteten. In den Revolutionskriegen standen erstmals Prozesse der Dechristianisierung gegen Rechristianisierungen, die mit ‘Nation’ und ‘Heimat’ eng verklammert waren. In gewandelten Kontexten sollten solche Konstellationen noch im 20. Jh. bis hin zu Hitlers Krieg wirksam werden.

Beschreibung der Teilprojekte

Noch in der ‘Zusammenbruchsgesellschaft’ nach dem Zweiten Weltkrieg deuteten Katholiken und Protestanten übereinstimmend das Desaster des Kriegsendes als Folge des heiligen Zornes Gottes. Solche öffentlichen Verlautbarungen aktualisierten konfessionsübergreifende Topoi eines jahrhundertealten Diskurses. Seine zentralen Motive: der Krieg als Gottesstrafe, die Deutung des Menschenschicksals in einem Tun-Ergehen-Zusammenhang, die Interpretation des Leidens als Gelegenheit der Prüfung und Buße, die Bereitschaft Gottes zu Barmherzigkeit und Rettung am Ende, die Interpretation des Davongekommenseins als Sieg und Bewährung, nicht zuletzt die Darstellung Gottes als Sieghelfer der eigenen Sache.
In einer epochen- und konfessionsübergreifenden Perspektive untersuchen wir solche religiösen Semantiken und Symbolsprachen im Zusammenhang des Krieges, wie sie seit etwa 1600 im Zusammenhang des Dreißigjährigen Krieges entwickelt und bis ins 20. Jahrhundert hinein forttradiert worden ist. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der Betrachtung von Entstehung und Wandel dieser religiösen Kategorien und Handlungsformen im Zusammenhang ihrer jeweiligen sozialen Umgebung.
Dabei schließen wir an die im Teilprojekt “Gott im Krieg” bereits in der zweiten Phase des SFB 2002-2004 unternommenen Forschungen zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten religiöser Kriegserfahrung und Kriegsdeutung an und führen sie erweitert um eine interkonfessionelle und transnationale Perspektive fort.

Die Untersuchungen zum Dreißigjährigen Krieg erarbeiten die theologischen Grundlagen und Konstanten eines zeitgenössischen katholischen und protestantischen religiösen Kriegsverständnisses und beschreibt deren diskursive Einspeisung und Rezeption auf verschiedenen Vermittlungsebenen. Sie verarbeitet aufgrund der Struktur der Quellen vornehmlich Material aus dem deutschen und französischen (teils italienischen) Raum.
Die Studien zu den beiden Weltkriegen fragen im deutsch- und französischsprachigen Raum nach Fortgeltung und Wandel, Krise, Verlust und Neuformulierung solcher Ordnungsmuster und Handlungsformen.

Das Teilprojekt G1 der ersten Antragsphase gliederte sich in drei Untersuchungen:

G1-U1: Gott im Krieg. Geistliche und Theologen und die Normen des Kriegsverstehens, 1618-1648 (Prof. Dr. Andreas Holzem)

Geistliche und Theologen beider Konfessionen im Dreißigjährigen Krieg haben nach der Ausgangsthese dieser Untersuchung eine sehr viel differenziertere und facettenreichere Deutung des Dreißigjährigen Krieges vorgenommen und breitenwirksam medialisiert als bislang angenommen. Dies gilt bis zum Ende des Krieges und darüber hinaus.

Die Untersuchung setzt sich in kritischer Ergänzung mit der Annahme auseinander, der Dreißigjährige Krieg habe sich spätestens seit dem Kriegseintritt Schwedens und Frankreichs von einem Konfessions- und Religionskrieg zu einem Mächtekrieg des entstehenden Europa der Staaten und Nationen gewandelt. Für die Ebenen von Politik, Diplomatie, Militärstrategie und Friedensverhandlungen wird die Geltung dieser Perspektive nicht bestritten. 
Darüber hinaus aber soll hier gezeigt werden, dass eine breite theologische Diskussionslandschaft die Kriegserfahrung der Gläubigen dauerhaft tief beeinflusste dass also von einer latenten Säkularisierung des Kriegsverstehens nicht gesprochen werden kann und sich stattdessen unter dem sozialen und militärischen Druck gerade der späteren Phasen des „französisch-schwedischen“ Krieges geradezu eine theologiegesättigte ‚Christianisierung‘ des Kriegsverstehens vollzog. Neben den gut aufgearbeiteten reichsreligionsrechtlichen Debatten und den ebenfalls vielfach rekonstruierten Marien- und Heiligenkulten, die teils mit konfessionellen Herrschaftsideologien eng verflochtenen waren, und nochmals jenseits der Bußpredigt, die den Krieg als das große Strafgericht Gottes plausibilisierte, wurde der Krieg zum Gegenstand der ‚ Theologia practica ‘. Diese Christianisierung des Kriegsverstehens verband in moraltheologischen Diskursen und Handbüchern, in Kirchenvätereditionen und Bibelkommentaren, in Beichtanleitungen und Predigtsammlungen, nicht zuletzt in der Frömmigkeitsliteratur in großer Genauigkeit die biblischen und patristischen Quellen des christlichen Glaubens mit dem aktuellen Erleben des Krieges und den Traditionen des religiösen Umgangs mit Kriegen. 
Die aufgezählte umfangreiche Literatur blieb in der bisherigen Forschung zum Kriegsverstehen wohl deshalb so unbeachtet, weil sie bibliografisch „auf leisen Sohlen“ daherkam und über ihre Titel nicht als kriegsbezogene Literatur erkennbar wurde. Ein systematisch angelegter Grabungsschnitt offenbart darin jedoch eine überaus reichhaltige Quelle religiösen Kriegsverstehens. Gleichzeitig lässt sich über handschriftliche Eintragungen der Besitzer- und Benutzerkreis und damit der Rezeptionsraum dieser Literatur genau rekonstruieren und mit den in der voraufgehenden Antragsphase bearbeiteten städtischen Erfahrungsräumen des deutschen Südwestens vernetzen. Theologisches Nachdenken war offenkundig in einem hohen Maß Quelle religiösen Kriegsverstehens im Alltag.

Die Untersuchung gliedert sich in drei Dimensionen:

  1. eine Freilegung der Quellen theologischer Reflexion des Krieges in Bibel, Patristik, Aszetik und Mystik und eine Rekonstruktion jener Denkmotorik, die diese Quellen in den aktuellen Erfahrungsrahmen einer ‚frühneuzeitlichen Kriegsverdichtung‘ einpasste;
  2. eine Ausarbeitung der Gehalte theologischer Reflexion des Krieges: die über die Strafgerichtsrede hinausgehenden tatsächlich hoch ambivalenten Gottesbilder, die auch Gerechtigkeits- und Barmherzigkeitsmotive einbanden und sehr unterschiedliche Geschichtsbilder und Apparaturen des Zeitverständnisses zur Grundlage hatten und die Einbindung der diffizil diskutierenden Häresie-/Ketzereidebatte, die vom Vergleich mit der Problematik der Religionskriege gegen die Türken her nochmals anschärft wurde. Hierher gehört auch die diachrone Dimension reflexiver Bezüge auf frühere Konfessionskriege; alle diese inhaltlichen Aspekte sind in einem strikten Abgleich protestantischer und katholischer Entwürfe und Bekenntnisbezüge zu bearbeiten;
  3. eine Vernetzung der Ergebnisse mit den derzeit vom Antragsteller erforschten Rezeptionsräumen theologischer Reflexion des Krieges in konkreten kommunalen Handlungsfeldern als Applizierungs- und Verhandlungsräumen von Theologie, um auf diese Weise Zugang zu gewinnen zu religiösen Vorstellungen, Gottesbildern und Handlungslogiken der Breitenreligiosität.

Reichhaltige Quellen liegen in den süd(west)deutschen Universitäts-, Landes- und Stiftsbibliotheken; sie werden vorwiegend mit inhalts- und diskursanalytischen Verfahren bearbeitet.

G1-U2 Kriegserfahrung und religiöse Deutung des Ersten Weltkrieges elsässischer und französisch-lothringischer Geistlicher im nationalen und konfessionellen Vergleich (Annette Jantzen)

Die Untersuchung befasst sich mit der Kriegserfahrung des Ersten Weltkrieges katholischer und protestantischer Geistlichen aus der deutsch-französischen Grenzregion Elsass-Lothringen und aus dem französischen Lothringen. Mit Blick auf die Archivbestände wurden hierfür die Diözesen Straßburg und Nancy ausgewählt. Das national umstrittene wie umkämpfte Land bildet den Bezugsraum der Untersuchung, wobei es um die Perspektive der dort zwischen Jahrhundertwende und Mitte der Zwanziger Jahre handelnden oder sich mit diesem Raum verbunden wissenden Geistlichen gehen soll.

Durchgeführt wird erstens ein Vergleich der Kriegserfahrung und -interpretation der in den oder in Bezug auf die beiden Regionen handelnden Geistlichen. Dies impliziert einen Vergleich der Kriegserfahrung auf beiden Seiten der Front, wozu dann auch der Vergleich der Deutung des gewonnenen und des verlorenen Krieges gehört. In dieser Untersuchung, die sich jeweils auf die gleiche soziale Gruppe auf beiden Seiten bezieht, können dann auch nationale Prägungen der konfessionellen Identität sichtbar gemacht werden. Für die Region Elsass sind dabei wiederum die Auseinandersetzungen um regionale und nationale Identität in der ‚petite patrie‘ zwischen Deutschland und Frankreich zu betrachten, die für diese Region eine einfache Gleichsetzung von ‚deutschen Staatsbürgern‘ und ‚Kriegsverlierern‘ nicht erlauben.

Die Standpunkte in diesen regionalen, aber auch in den nationalen Auseinandersetzungen sind auch mit konfessionellen Zugehörigkeiten verbunden. Daher wird zweitens ein Vergleich der Kriegserfahrung und der Kriegsinterpretation von Geistlichen verschiedener Konfessionen angestellt. Im Zuge dessen wird sowohl auf die eventuelle Identifikation des Kriegsgegners mit dem religiösen Gegner als auch auf die nationalen und konfessionellen Auseinandersetzungen im elsässischen Hinterland der Front einzugehen sein.

Da ‚Kriegserfahrung‘ nicht nur an der Front gemacht wird, sondern der Begriff ein komplexes gesellschaftliches Phänomen bezeichnet, stellt eine dritte Dimension des Projekts der Vergleich von verschiedenen vom Krieg betroffenen gesellschaftlichen Kontexten dar: Angehörige aller drei untersuchten Gruppen – französisch-lothringische und elsässische katholische Geistliche sowie elsässische protestantische Geistliche – können an der Front, in der Etappe, in der Gefangenschaft, als Zivilisten im besetzten oder nur indirekt betroffenen Gebiet sowie im Kontext von Evakuierung und Vertreibung angetroffen werden. Ein Vergleich dieser Lebenswelten schließt einen Vergleich des Kriegserlebens von Geistlichen im Kriegseinsatz an der Waffe und ohne Waffen ein. Des Weiteren geht es um eine Betrachtung nicht nur der einfachen Geistlichen, sondern auch der Leitenden der jeweiligen Kirchen, wobei die innerkirchlichen Kommunikationsprozesse als Prozesse der gelungenen oder verweigerten Erfahrungsadaption sichtbar gemacht werden sollen.

Um diesen drei Dimensionen des Vergleichs der Kriegserfahrung und Kriegsinterpretation nachzugehen, werden zuerst die Lebenswelten der untersuchten Gruppen im Spannungsfeld von Religion, Nation und Krieg einschließlich der vorhandenen Deutungsangebote religiöser und nationaler Natur rekonstruiert. Hier wird insbesondere auch auf die Vorkriegszeit eingegangen. Ausgehend davon werden die Deutungen des von diesen Hintergründen geprägten Erlebens des Krieges nachgezeichnet. Dabei stehen vor allem die jeweiligen Prägungen der Wahrnehmung und die eventuelle Transformation dieser prägenden Wahrnehmungsmuster durch die Erfahrung des Krieges zur Debatte.

G1-U3 Auf „großer Fahrt“ in den Krieg. Kriegserfahrungsprozesse in Jugendbewegung und Liturgischer Bewegung (Christoph Holzapfel)

Katholische Soldaten, das hat die vorangegangene Untersuchung zum Wandel religiöser Plausibilitäten in den Weltkriegen bereits erkennen lassen, formulierten ihre religiösen Deutungen des Zweiten Weltkrieges unter deutlichem Rückgriff auf zentrale Gehalte der Jugendbewegung und der Liturgischen Bewegung. Das Arsenal an handlungsformierenden Kriegsinterpretationen wurde dadurch gegenüber den während des Ersten Weltkriegs vorherrschenden, vorwiegend traditionellen Mustern erheblich erweitert: Neu und dominierend war vor allem, die eigene Rolle im Kriegsgeschehen als dem Willen und dem Weltplan Gottes entsprechend im Sinne einer weltbezogenen Gesamtverantwortung junger Christen zu interpretieren. Individuelle Bewährung als Christ im Kontext kollektiver weltanschaulicher Gegensätze – mit dieser Haltung konnte das Handeln als bewusst christlicher und katholischer Soldat abgelöst werden von der Tatsache, dass man Soldat in Hitlers Krieg war.

Individuelle Verantwortung in geformter Gemeinschaft, Tatchristentum „in der Welt“ – diese neuen Muster waren ihrerseits als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstanden. Ansätze in der bürgerlichen Jugendbewegung erhielten durch die Kriegserfahrung 1914-1918 und den Kriegsdiskurs der Weimarer Zeit im bislang eher ‚antimodern‘ agierenden Katholizismus eine enorme Breiten- und Tiefenwirkung. Neue Formen der Jugendpastoral wurden bereits während des Krieges erprobt und mit Blick auf die gesellschaftlichen Folgen des Krieges seit 1918 institutionell umgesetzt. Diese Ansätze wurden in der unmittelbaren Vorphase der nationalsozialistischen Machtergreifung und dann nochmals im unmittelbaren Vorfeld des Kriegsausbruchs 1939 an die jeweils neuen Erfahrungsbedingungen adaptiert.

Der Untersuchung geht es darum, religiöse Deutungen des Zweiten Weltkriegs als religiöse Verarbeitung des Ersten Weltkrieges in während der zwanziger Jahre entstandenen Formen sichtbar zu machen. Untersuchungsgegenstand ist die Geschichte dreier Bünde der katholischen Jugendbewegung während der zwanziger und dreißiger Jahre: Quickborn, Neudeutschland und Katholischer Jungmännerverband Deutschlands.

In einer Kombination aus inhalts- und diskursanalytischen wie kollektiv- und einzelbiographischen Zugriffen sollen Inhalte, institutionelle Strukturen und Positionen sowie Aktivitäten der Verbände und zentraler Verbandsführer der drei ‚Bünde‘ rekonstruiert werden.

Als reichhaltige Quellen stehen für die Untersuchung die Archive und Zeitschriften der Bewegungen, die Nachlässe der Hauptakteure, mehrere Feldpostbriefsammlungen sowie Graue Literatur, Broschüren und vorprofessionelle Vervielfältigungen und Rundbriefe zur Verfügung.

Das Teilprojekt A1 der zweiten Antragsphase gliederte sich in zwei Untersuchungen:

A1-U1 Religiöse Semantik und Symbolsprache des Krieges im 17. Jahrhundert (Prof. Dr. Andreas Holzem)

Die zentrale These der Untersuchung geht dahin, dass der Dreißigjährige Krieg, in der Forschung derzeit vielfach als „konfessioneller Bürgerkrieg“ beschrieben, in besonderer Weise einer religiösen Begründung bedurfte, und zwar über die traditionelle Lehre vom „gerechten Krieg“ hinaus. Gerade sein Anfangscharakter als „innerchristlicher Religionskrieg“ schuf im Gegensatz zu den Kriegen des Mittelalters und der beginnenden frühen Neuzeit einen neuen Begründungs- und Erklärungsnotstand. Nachdem sich die Bindung an den christlichen Gott konfessionell aufgespalten hatte, der Kampf gegen die jeweils andere Konfession aber nicht wie in den Kreuzzügen oder den Türkenkriegen pauschal als Krieg gegen die Heiden plausibilisiert werden konnte, musste in besonderer Weise deutlich gemacht werden, welche Rolle Gott als Herr der Geschichte in diesem Kriegsgeschehen einnahm. Gleichzeitig übertrafen Kriegsgeschehen und Kriegserfahrung in Ausmaß, Breitenwirkung und Dauer das bislang Bekannte. Man hat treffend von einer „frühneuzeitlichen Kriegsverdichtung“ gesprochen. Auch dieser Umstand ließ, stärker als früher, nach der Rolle Gottes in diesem historischen Geschehen fragen. Darum war es auch in größerem Ausmaß als bislang notwendig, die gefundenen Erklärungen breitenwirksam zu popularisieren.

Die Untersuchung zur religiösen Semantik und Symbolsprache des Krieges im 17. Jahrhundert gliedert sich in drei sachliche Bereiche.

  1. Sie untersucht zunächst die theologische Debatte über Kriegsrecht und Kriegsgründe, um zu klären, in welcher Weise dem neuartigen Rechtfertigungsbedarf entsprochen wurde, welche religionspolitischen Leitlinien das Handeln und Verstehen der betroffenen Verantwortungsträger prägten und wie sich dementsprechend der Horizont der Deutungen gestaltete, der breitenwirksam der vom Krieg betroffenen Bevölkerung angeboten werden konnte und musste.
  2. Sodann zielt die Untersuchung auf die Semantisierungen und Symbolisierungen frühneuzeitlichen religiösen Kriegsverstehens, die eben diesen Deutungstransfer leisten sollten. Untersucht werden Medienfelder und memoriale Stützungsmittel, die Kriegserfahrung als sinnhaft und bewältigungsmöglich erweisen sollten, indem sie das unmittelbare Erleben an die vorsehende und den Individuen und Gruppen in Gestalt von Belohnung, Erziehung oder Strafe zugewandte Wirksamkeit jenseitiger Mächte – Gott, Maria, Heilige, Teufel, Dämonen – zurückbanden.
  3. Schließlich geht es um die soziale Verortung des Kriegsdiskurses. Erforscht wird, welche Personen und Gruppen innerhalb eines politischen und religiösen Gemeinwesens das Verstehen des Krieges vermittelten und durchsetzten. Dabei ist mitgefragt nach jenen Entscheidungswegen, auf denen religiöse Plausibilitäten in politisches und gesellschaftliches Handeln übersetzt werden konnten, und nach jenen Kontroversen, die das Begehen dieser Entscheidungswege vorbereiteten oder begleiteten.

Die Untersuchung arbeitet stadtgeschichtlich. Sie geht davon aus, dass sich die mit den Frageebenen 2 und 3 angezielten Prozesse in Stadtgesellschaften trennschärfer beobachten lassen als in ausgedehnten Konfessionsterritorien. Gegenstand der Untersuchung sind daher mit Rottweil und Überlingen zwei katholische Reichsstädte des deutschen Südwestens. Um einen möglichen Zusammenhang zwischen dem religiösen Diskurs und seinen sozialen Trägergruppen einerseits und Konfessionsspezifika der Verhältnisdynamik von Krieg und Religion andererseits zu fassen zu bekommen, werden zur Kontrolle die gemischt-konfessionellen Reichsstädte Ravensburg und Biberach vergleichend hinzugezogen.

A1-U2 Wandel und Depotenzierung religiöser Plausibilitäten durch Kriegserfahrung zwischen 1900 und 1950 (Christoph Holzapfel)

Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, so die Ausgangshypothese, stellten – dem Dreißigjährigen Krieg vergleichbar – einen solchen Einschnitt in der breitenwirksamen Kriegserfahrung dar, dass die überkommenen religiösen Gewissheiten im Zusammenhang des Krieges erneut zur Debatte standen. Bis weit in die Kreise derer, die sich dem konfessionellen Milieu des Katholizismus zugehörig fühlten, wurden zentrale religiöse Argumente unplausibel. Die Depotenzierung überkommener Gottesbilder im Kriegsgeschehen konnte nicht mehr vollständig durch eine kirchen- und institutionengebundene religiöse Semantik aufgefangen werden. So ging aus den beiden Weltkriegen letztlich eine breite Welle mentaler Säkularisierung, aber auch ein Umbau der religiösen Bezugssysteme hin zum Eklektizismus, zum Aberglauben oder zu ersatzreligiösen Formen hervor.

Diese der Untersuchung zugrunde liegende Hypothese geht davon aus, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar zahlreiche Elemente des religiösen Kriegsdiskurses aus dem 17. Jahrhundert als religiöses Sinnangebot noch forttradiert wurden, dass sich diese jedoch mit der realen Erfahrung des Krieges, wie sie einzeln und in Gruppen gemacht wurde, zunehmend weniger vereinbaren ließen. Zudem standen während und nach den Weltkriegen alternierende Muster der religiösen oder quasireligiösen Kriegsdeutung zur Verfügung, die mit dem überkommenden Deutungskanon konkurrierten. Auf diese Weise verloren langfristig gelebte Gewissheiten bis in Kernbereiche des katholischen Milieus hinein schlagartig ihre Plausibilität oder wurden schleichend umgebaut. Das hatte weitreichende Konsequenzen für die gesellschaftliche Geltung des Religiösen überhaupt, so sehr man sich auch nach 1945 bemühte, ein religiös geprägtes Gesellschaftsmodell wiederzubeleben.

In einem ersten Schritt dieser Untersuchung wird nach dem den unmittelbaren Kriegsteilnehmern angebotenen Gottesbild gefragt, das ein religiöses Verstehen von Kriegserfahrungen und Kriegshandlungen ermöglichen sollte und das sich zusammenfügte aus biblischen und pastoralen Leitbildern und ihren religionspolitischen Zuschreibungen. Ein besonderes Augenmerk gilt der Rezeption und Anverwandlung solcher Sinnangebote in der Lektüre, der homiletischen und liturgischen Praxis und in Soldatenbriefen.

Ein zweiter Teilbereich der Untersuchung ist der religiösen Erfahrung derer gewidmet, die nicht unmittelbar an Kriegshandlungen teilnahmen, sondern die den Krieg als Zivilisten erfuhren und erlitten. Es geht um eine „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz) religiösen Lebens vor, in und nach den Kriegen in ausgewählten „Modellpfarreien“.

Drittens wird ein Forschungszugriff auf die Arbeit an Pastoralkonzepten in Nachkriegszeiten und ihren erfahrungsgeschichtlichen Horizont versucht. Es geht um das Bemühen der katholischen Kirche und kirchlicher Gruppen, unter Rückgriff auf die jeweilige Kriegserfahrung und Kriegsdeutung Pastoralkonzepte für die durch den Krieg geprägten Laien zu entwerfen. Damit geht es auch um die Reaktion auf die neuen politischen und gesellschaftlichen Gesamtlagen in den Nachkriegsgesellschaften der Weltkriege und um die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der sozialen Großgruppe „Katholizismus“ und um dessen Gesprächs- und Aufarbeitungskompetenz in als traumatisch erfahrenen historischen Umbruchsituationen. Im Mittelpunkt steht jeweils die Frage nach der Konsensfähigkeit bzw. dem Spaltungs- und Entfremdungspotential von Kriegserfahrung und deren Auswirkung für die Entwicklung kollektiver religiöser Identität.