Japanologie

AJR-Symposium 2019: Religion und Politik in Japan

 

-- Abstracts --

  

Jörg Quenzer: "Religiöse Rituale und Macht: Anmerkungen zu Exkaiser Goshirakawa"

Im 8. und 9. Monat des Jahres 1188, im Schatten der großen Machtverschie­bungen am Ende des 12. Jahrhunderts, ließ Exkaiser Goshirakawa (1127–1192), ein wichtiger Protagonist eben dieser Kämpfe, unter Beteiligung hochrangiger Vertreter des Hofadels und des Klerus eine komplexe und zeitintensive Zere­monie durchführen, das „Rituelle Abschreiben des [Lotos-]sūtras“ (nyohōkyō). Diese Aktivität fand Niederschlag in mehreren offiziellen Tagebuchchroniken (nikki) des Hofadels, unter anderem im Gyokuyō des Kujō Kanezane (1149–1207), vor allem aber im Sadanaga-kyō ki von Fujiwara no Sadanaga (1149–1195). Die rituelle Umsetzung, für die es in dieser Form offenbar keine festen Vorbilder gegeben hatte, fand dann wiederum Eingang in mehrere wichtige Ritualkompendien des mittelalterlichen Buddhismus. Eine dritte, methodisch problematische Quelle ist schließlich ihre Wiedergabe in maki 9 der „Bebilderten Darstellung des Wirkens des Ehrwürdigen Hōnen“ (Hōnen Shōnin gyōjō ezu) vom Anfang des 14. Jahrhunderts.

Das „Rituelle Abschreiben des [Lotos-]sūtras“ ist eine religiöse Praxis, die sich in Japan historisch auf den 2. Patriarchen der Tendai-Schule, Jikaku (794–864), zurückführen lässt. In der Ursprungssituation handelt es sich um ein dezidiert privates Ritual ohne Bezüge zum säkularen Bereich. Die frühesten Quellen stellen den authentischen Schreibakt ins Zentrum, abgeschlossen durch eine rituelle Darreichung des entstandenen Artefakts. In den kommenden Jahr­hunderten wurde diese Praxis durch einen Bezug zu eschatologischen Konzepten (Bodhisattva Maitreya als zukünftiger Buddha) erweitert, u.a. durch rituelles Vergraben (maikyō) solcherart entstandender Artefakte „für spätere Zeiten“, und erhielt damit eine politische Tendenz im weiteren Sinne, die sich auch der Diskurse um religiöse und politische Macht (ōbō buppō) bediente. Ein sehr frühes Beispiel für eine derartige Verbindung von persönlichem und politischem Anspruch ist das Vergraben von kopierten Sūtren durch den mächtigsten Staatsmann in der Mitte der Heian-Zeit, Fujiwara no Michinaga (966–1027), auf dem Kinpusen 1007.

Die erhaltenen Aufzeichnungen für das Jahr 1188 lassen keine explizite politische Intention erkennen; dennoch ist insbesondere die Rahmung der Zeremonie, weiterhin aber auch die Wahl der beteiligten Akteure, Teil einer religiös-politischen Situierung durch den eigentlichen Initiator und Haupt­akteur, Goshirakawa. Die Zeremonie hat Teil an der allgemeinen Tendenz der damaligen Zeit, die Grenzen zwischen politischen und religiösen Orten zu verwischen. Goshirakawa brachte zudem vorübergehend Opponenten im Machtkampf am Übergang zum Mittelalter zusammen, in jener kritischen Phase, in der die Fragen „nach der Schlacht“, d.h. der neu auszuhandelnden Machtverhältnisse, zu klären waren. Eine Analyse der genauen Umstände dieser Zeremonie lässt diese somit als Teil von Goshirakawas Versuchen erkennen, durch den Anspruch auf Deutungshoheit in religös-kulturellen Belangen – als Anspruch, der auf einem traditionellen Verständnis von Hofkultur basierte – auf vielfältige Weise seine Herrschaftsansprüche zu legitimieren und damit weiterhin als politische Kraft wahrgenommen werden zu wollen – ein Unterfangen, mit dem er letztlich scheiterte.

 

Daniel Schley: "Klostermacht und Königsheil vom 11.-14. Jahrhundert"

Das Verhältnis von Religion und Politik besitzt viele Erscheinungsformen in Japan, unter denen ich in meinem Vortrag buddhistische und konfuzianische Vorstellungen weltlicher Macht aus Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts vorstelle. Religiöse Praktiken und ideelle Konzepte aus verschiedenen kulturellen Überlieferungen waren von Anfang an ein integraler Bestandteil von Herrschaft in Japan, die seit dem späten 6. Jahrhundert die Grund­strukturen sozialpolitischer Ordnungsentwürfe prägten. Gegenüber der frühen Konsolidierungsphase hatten einige monastische Institutionen in Folge der im 10. Jahrhundert nachlassenden Kontrolle des Hofadels über das ursprünglich in den strafrechtlichen und administrativen Verordnungen (ritsuryō) festgelegte Reichsgebiet einen höheren Grad an Selbstverwaltung erlangt. Die Klöster befanden sich untereinander, sowie mit dem Hofadel und lokalen Verwaltern, in zunehmend radikalisierten Konflikten um Besitzrechte an Land oder Personalentscheidungen. Vermehrt versuchten die Klöster dabei, ihre Probleme mit militärischen Mitteln zu lösen, womit sie auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung reagierten. Die immer wieder aufbrechenden Streitigkeiten zwi­schen den Tendai-Fraktionen des Enryakuji und Onjōji zählen zu den bekanntesten Beispielen und bis zum 12. Jahrhundert waren die großen Klöster, inklusive der mit ihnen verbundenen Schreine, zu politischen Akteuren geworden. 

Kuroda Toshio hatte mit seinen Systementwürfen von kenmon und kenmitsu, d.h. dem „System der Machtblöcke“ (kenmon taisei) und dem religiösen „System der exo-esoterischen Ordnung“ (kenmitsu taisei), ein sozialgeschichtliches Pro­gramm für die Beschäftigung mit Gesellschaft und Herrschaft vom 10. bis 16. Jh. vorgelegt. Deren religiöse Grundlegung machte er im wechselseitigen Ver­hältnis von Buddhas Lehre (仏法 buppō) und der königlichen Ordnung (王法 ōbō) aus, wie es in den Quellen ab dem frühen 11. Jahrhundert vermehrt begegnet. Für Kuroda war das ein Beleg für die in Japan geltende „Logik der Verbindung von Staat und Religion“ (国家と宗教との結合の論理, Kuroda 1975, S. 462). Das Politische an ōbō setzte Kuroda als selbstverständlich voraus, wobei er deutlich machte, dass das Königtum dabei grundsätzlich aus buddhistischer Perspektive beschrieben war.

In meinem Vortrag habe ich anhand von Kujō Kanezanes (九条兼実1149–1207) Tagebuch Gyokuyō (玉葉) eine differenzierende Betrachtungsweise entwickelt. Ausgangspunkt meiner Quellenanalyse war die Zerstörung des Tōdaiji und anderer buddhistischer Zentren Naras, die am 15. Januar 1181 (Jishō 4/12/28) Opfer einer Vergeltungsaktion der Taira geworden waren. Am darauffolgenden Tag reflektierte Kanezane die Zerstörung begrifflich schon gefestigt im Bedingungsverhältnis von ōbō und buppō. Doch welche Lösungsvorschläge er zur Behebung der zerstörten Einheit von Klostermacht und Königsheil entwickelte, verweist auf ein alternatives Verständnis von ōbō als weltliche Macht. Meine Frage richtete sich somit zum einen direkt auf Kanezanes Verständnis dieser Begriffskombination, und weshalb er sie gegenüber anderen Formulierungen der Reichspolitik an dieser Stelle bevorzugte. Zum anderen zog ich eine Verbindung zu Kanezanes politischen Vorstellungen, wie sie aus weiteren Belegstellen des Gyokuyō hervorgehen, in denen er klassische Forderungen konfuzianischer Herrschaftslehren aufgriff.

 

Brigitte Pickl-Kolaczia: "Die Reorganisation der Religion(en) in Mito"

In diesem Vortrag wurde das Konzept hanryō shintō 藩領神道(„Daimyats-Shintō“), also der regionalen Ausprägung von Shintō, am Beispiel Mitos in der zweiten Hälfe des 17. Jahrhunderts erläutert. Der daimyō Mitos, Tokugawa Mitsukuni (1628-1701), unternahm eine Reihe von Schritten, die die religiöse Landschaft in seinem han (Lehen, Daimyat) gravierend verändern sollten. Dazu zählen die Zerstörung zahlreicher religiöser Institutionen, ein massiver Angriff auf den Hachiman-Glauben, Reformen im Bereich des Shintō und eine Verlegung der Bestattungen der Elite weg vom Buddhismus in den Bereich des Konfuzianismus. 

Ein besonderes Anliegen war Mitsukuni die Trennung von Buddhismus und Shintō und so wurden buddhistische Elemente aus Shintō-Schreinen entfernt. Besonders prominent sind hier Vorschriften des Yoshida- und des Shizu-Schreins, die Mönchen und Nonnen gebot, ihr buddhistisches Gewand vor Betreten des Schreins abzulegen. Die Abschaffung bzw. Umwidmung zahl­reicher Hachiman-Schreine wurde dagegen höchstwahrscheinlich nicht aufgrund der buddhistischen Konnotation Hachimans angeordnet. Vielmehr scheint es sich bei der Loslösung Hachimans, der als kaiserliche Ahnengottheit verstanden wird, von der Verehrung als Schutzgottheit des Kriegerclans der Genji um eine Ausprägung von Kaiserverehrung gehandelt zu haben. 

Groß angelegte Zerstörungen von buddhistischen Tempeln ab 1666 wurden rational mit Abweichungen vom früh-edozeitlichen Idealbild des Buddhismus begründet. Es wurden v.a. Tempel ins Visier genommen, die als nutzlos betrachtete wurden, weil sie ihre Aufgabe der religiösen Kontrolle nicht wahr­nahmen, oder solche, deren Mönche unmoralisches Verhalten zeigten. Auf der anderen Seite wurden Shintō-Schreine ebenfalls nicht unbesehen gefördert. Hier galt es, einem von Mitsukuni gestalteten Prinzip zu entsprechen. Und dieses hieß, ein vom Buddhismus emanzipierter und von einem zertifizierten shinshoku (Shintō-Priester) verwalteter Schutzschrein zu sein. Kleine Weg­schreine, die mehr im lokalen Brauchtum als in einem Shintō nach Mitsukunis Vorstellungen verwurzelt waren, mussten daher ebenfalls weichen. Ziel der Maßnahmen scheint daher weder die Unterdrückung des Buddhismus noch eine kritiklose Förderung des Shintō gewesen zu sein, als vielmehr der religiösen Landschaft den eigenen Stempel aufzudrücken. Diesen Stempel nennen wir im Rahmen unseres Projektes „hanryō shintō“, ein System religiöser Tradition, das nach den Vorstellungen der von uns untersuchten Territorial­fürsten, in diesem Fall Mitsukuni, konzipiert und bis zu einem gewissen Grad auch umgesetzt wurde.

(Siehe auch die Abstracts von Stefan Köck und Bernhard Scheid.)

 

Stefan Köck: "Die Umstrukturierung religiöser Institutionen im Okayama-han und das Entstehen eines ‚Daimyats-Shintō'"

Der Vortrag thematisierte Aspekte des Forschungsprojekts Shintō-uke – Religiöse Kontrolle durch Shintō-Schreine, welches vom Österreichischen Wissenschafts­fonds (FWF) gefördert und am Institut für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien durch­geführt wird. 

Fragen nach Zeitpunkt und Umständen des Lösens von Shintō aus buddhisti­schem Kontext gehören zu den drängendsten der Geschichte der Religionen des frühmodernen Japan. Von besonderer Relevanz sind in diesem Zusammenhang Maßnahmen zur Umstrukturierung religiöser Institutionen, die vom Daimyō Ikeda Mitsumasa (1609–1682) im Okayama-han durchgeführt wurden. Mitsu­masa ließ ab 1666 die Anzahl der Schreine auf einen ujigami-Schrein (Schrein der lokalen Schutzgottheit) pro Dorf reduzieren sowie die Zahl buddhistischer Tempel und Mönche drastisch verringern. Um einen Zusammenbruch des tera-uke Systems zu verhindern, demzufolge alle Familien zwecks Überwachung der Bevölkerung bei Tempeln registriert sein mussten, ließ Mitsumasa diese Kontrolle nach Abschluss der Maßnahmen über Schreine durchführen. 

In zeitgenössischen Quellen läßt sich feststellen, dass dies im Okayama-han zu einer klaren Trennung von Buddhismus und Shintō in personeller und administrativer Hinsicht führte, wie auch in Aspekten, die den Ritus betreffen. Diese in den späten 1660er Jahren erfolgte Trennung hatte die Edo-Zeit hindurch Bestand, auch nachdem auf Weisung des bakufu, der in Edo ansässigen Zentralregierung, ab 1687 religiöse Kontrolle wieder durch tera-uke erfolgen musste. 

Die Forschungen im Rahmen des Projekts deuten darauf hin, dass das Herausbilden einer eigenständigen Tradition Shintō in Okayama nicht von Anfang an beabsichtigt, sondern eher der Dynamik der Entwicklungen geschuldet war. Ikeda Mitsumasas ursprüngliche Intention war, unter der Bevölkerung seines Daimyats Konfuzianismus zu verbreiten. Damit blieb er weitgehend erfolglos. Im aktuellen Stadium der Forschungen lassen sich auch keine verstärkten neokonfuzianischen Einflüsse auf Shintō im Okayama-han ausmachen. Stattdessen waren in der Anfangsphase Vertreter des Yoshida-Shintō einflussreich. Damit weisen erste Ergebnisse darauf hin, dass der Begriff konfuzianischer Shintō, der oft pauschal zur Charakterisierung von Shintō in der Edo-Zeit verwendet wird, auch einer Neubewertung hinsichtlich seiner Reichweite zu unterziehen wäre.

Im Okayama-han wird Shintō erstmals in einem kompletten Daimyat als eigenständige Tradition sichtbar. Mit dem Konzept hanryō shintō, „Daimyats-Shintō“ soll dieses Phänomen beschrieben werden. Geplant ist, in einer weiteren Projektphase Elemente, die darunter fallen, eingehender zu studieren und zu prüfen, ob und in wieweit sich dieses Konzept auch für Erscheinungen in anderen Regionen Japans als tragfähig erweisen könnte.

(Siehe auch die Abstracts von Brigitte Pickl-Kolaczia und Bernhard Scheid.)

 

Bernhard Scheid: "Hoshina Masayuki und der Daimyats-Shintō des 17. Jahrhunderts"

Hoshina Masayuki (1611–1673), Staatsmann unter dem vierten Tokugawa-Shōgun Ietsuna und Daimyō von Aizu, zählte mit den Daimyō von Okayama und Mito zu den führenden Vertretern einer Religionspolitik, die hier als Daimyats-Shintō (hanryō shintō) bezeichnet werden soll. Alle drei führten in den 1660er Jahren tiefgreifende Reformen durch, die auf eine institutionelle Entflechtung von Tempeln und Schreinen bzw. buddhistischem und shintō­istischem Klerus in ihren jeweiligen Lehensgebieten hinausliefen. Masayukis Beispiel rückt darüber hinaus einen weiteren Aspekt des Daimyats-Shintō in den Vordergrund, nämlich nicht-buddhistische Bestattungsriten. Während die Daimyō von Okayama und Mito für sich und ihre Familien konfuzianische Begräbnisse und Grabanlagen favorisierten, wurde Masayuki in Aizu nach einem bislang unbekannten Shintō-Kult bestattet und schließlich sogar zur Schreingottheit erhoben. Eine derartige Bestattungsform stand zum damaligen Zeitpunkt keinem anderen Daimyō zur Verfügung. Sie war Masayukis exklusivem Zugang zu den innersten Geheimnissen der höfischen Priester­familie Yoshida geschuldet und bedeute eine schwerwiegende Verletzung der Yoshida-Familientradition. Im Vortrag wird die Entstehung der shintōistischen Bestattung cum Deifizierung im Hause Yoshida kurz skizziert. Anhand dieser Geschichte wird deutlich, dass sich Masayuki wohl eher an der Apotheose Toyotomi Hideyoshis als an der Apotheose seines Großvaters, Tokugawa Ieyasu, orientierte. Was sein selbstinszeniertes Nachleben mit den konfuziani­schen Kulten der anderen genannten Daimyō verband, war die Suche nach ritueller Autonomie, die sich dem buddhistischen Klerus entzog. Wahr­scheinlich war auch die angestrebte Trennung von Tempeln und Schreinen in den drei Daimyaten von einem mehr oder weniger starken Zweifel am buddhistischen Klerus motiviert. Damit entstanden Interessensgegensätze zwischen dem Daimyats-Shintō und der offiziellen Religionspolitik der Tokugawa: Die Zentralregierung legte sowohl die religiös begründete Hierarchie zwischen Shōgun und Daimyō als auch die ideologische Kontrolle der Gesamtbevölkerung in die Hände von sorgfältig ausgewählten buddhisti­schen Institutionen. Der Daimyats-Shintō versuchte hingegen, einen oftmals neu zu schaffenden Shintō-Klerus sowohl in die religiöse Verwaltung als auch — im Fall von Hoshina Masayuki — in den lokalen dynastischen Kult einzubinden. 

(Siehe auch die Abstracts von Brigitte Pickl-Kolaczia und Stefan Köck.)

 

Julia Swoboda: "Geschlechterrollen beim daijōsai: Die Rolle der Naishōten und Shōten im Kōshitsu-Shintō"

Die Naishōten 内掌典, die als rituelle Spezialistinnen exklusiv für die Zeremonien des Kashikodokoro 賢所 und Kōreiden 皇霊殿 des japanischen Kaiserhauses zuständig sind, sind seit Ende des Zweiten Weltkrieges private Angestellte des Kaiserhauses ohne öffentlich sichtbare Aufgaben. Während die Behauptung, dass das Amt seit der Heian-Zeit unverändert geblieben sei, zwar für den Bereich der Zeremonien gelten mag, wandelte sich die Zuordnung innerhalb der Organisationsstruktur des Kaiserhauses in der Geschichte jedoch mehrfach. Bis 1871 noch als mikannagi 御巫 bezeichnet, wurden ihnen unter anderem auch schamanische Qualitäten zugesprochen, die im Rahmen der Meiji-Restauration jedoch eliminiert werden sollten. Sie sind dennoch bis heute die Einzigen, die in den innersten und damit reinsten Bereich des Kashikodokoro, den nainai-jin 内々陣, vordringen dürfen, der selbst für den Kaiser ein Tabu darstellt, obwohl er dem Kaiserhaus-Shintō als Nachkomme der dort eingeschreinten Sonnengöttin gilt. Eine vom Hofamt zur Publikation zugelassene und im Jahr 2006 erschienene Autobiographie der ehemaligen Naishōten Takaya Asako (高谷朝子) schließlich eröffnete einen ersten umfassenden Einblick in das tägliche Leben und Wirken der Naishōten. Zwar gaben bereits zuvor alte Quellen wie das Engishiki 延喜式 Aufschluss über einige rituelle Abläufe und Utensilien, Takaya aber zeigte erstmals, wie die Naishōten ihren täglichen Pflichten nachgehen, welcher Art diese sind und wie sich die Zusammenarbeit mit anderen Palastangestellten, den Shōten 掌典, Kammerherren, sowie der kaiserlichen Familie gestaltet. Gerade in Bezug auf die genaue Durchführung von Zeremonien, angefangen mit den Vorschriften zur Abstinenz, die sich selbst auf die Wortwahl auswirken, den Reinigungsritualen und der Darbringung von Opferspeisen am Kashikodokoro und Kōreiden bis hin zu ihrer Schilderung ihrer Rolle während der Inthronisierung eines neuen Kaisers, wird vieles beschrieben, was bis dato nur mündlich weitergegeben wurde. Anders als ihre männlichen Pendants, die Shōten, die zu Hause leben und in Schichten arbeiten, verlassen Naishōten den Kaiserpalast nicht und unterziehen sich täglich strikt geregelten Reinigungsritualen. Während der Inthronisierungszeremonien, ganz besonders im Rahmen des daijōsai, kommt ihnen eine ebenso wichtige wie öffentlich nicht beobachtbare Funktion zu, indem sie sowohl für die Reinigung der Schauplätze (daijō-gū 大嘗宮 etc.), als auch für die Reinheit und Befriedung der Seele des neuen Kaisers Sorge tragen. Obgleich sie diese wichtigen Aufgaben in nächster Nähe des Kaiserpaares und der kami erfüllen, unterstehen sie hierarchisch heute wie in der Geschichte einer männlichen Elite ritueller Experten, die außeralltägliche Zeremonien (shunsaidaijōsai etc.) stets eröffnen, indem sie der Gruppe der ausführenden Naishōten vorangehen. Mögliche Gründe hierfür sind Gegenstand weiterer Untersuchungen.

(Bericht aus dem Dissertationsprojekt „The Roles of Female Functionaries in Contemporary Institutionalized Shintō: Social Perception and Self-Images”)

 

Sebastian Krockenberger: "Die rituelle Seite des Kaisertums. Bericht aus dem Promotionsvorhaben: ‚Sakralkönigtum in Japan im Spiegel der kaiserlichen Rituale der Gegenwart'"

Die Arbeit geht der Forschungsfrage nach, ob der Tennō ein Sakralkönig ist. Durch die theoretische Erörterung der „Herrschersakralität“ kommen die religiösen Rituale in den Fokus, die der Kaiser in der heutigen Zeit regelmäßig feiert, insbesondere die Zeremonien zu Abdankung und Thronbesteigung im Jahr 2019. Nach seinem Amtsantritt 1989 hat sich der Kaiser Akihito 1990 im daijōsai mit der Sonnengöttin und weiteren Gottheiten rituell verbunden. Für die Thronbesteigungszeremonien des neuen Kaisers Naruhito ist im November 2019 wieder ein daijōsai geplant. 

Die öffentlich zugänglichen Dokumente der Regierungskommissionen, die seit 2016 tagen und den Thronwechsel vorbereiten und begleiten, zeigen mit welchem Konzept der Tennō-Institution die Regierung arbeitet. Die sakrale Dimension wird bei den Beratungen ebenfalls in den Blick genommen. Die Dokumente zeigen, wie sich vor allem das Hofamt – obwohl eine staatliche Behörde – mit der Vorbereitung der religiösen Zeremonien wie dem daijōsai beschäftigt. Zum Beispiel veröffentlichte das Hofamt auf seiner Homepage eine Tabelle, die in japanischer und englischer Sprache mehrere religiöse Zeremonien des Thronwechsels auflistet.

Auch mythologische Vorstellungen sind in den Beratungen präsent. In der zweiten Sitzung der Expertenkommission am 27. Oktober 2016, die über mögliche Entlastungen des Kaisers in seinen Aufgaben in den Jahren 2016 und 2017 beriet, wurde ein Dokument verwendet, das die mythologisch inspirierte Genealogie des Kaiserhauses mit Jimmu-Tennō als angeblich erstem Kaiser zeigt. Entsprechend nennt auch das Hofamt auf seiner Homepage Naruhito als den 126. Kaiser Japans.

Ein kleines Beispiel zeigt die Beteiligung der Regierung an religiösen Zeremonien. Am 8. Mai 2019 gibt die Homepage des Premierministers bekannt, dass Premier Abe an den Zeremonien teilnimmt, bei denen der neue Kaiser an den Palastschreinen kashiko dokorokōreiden und shinden die Daten von daijōsai und sokui no rei den dort Verehrten verkündet.

An der bestehenden Praxis der Finanzierung des daijōsai aus dem Staatshauhalt wird sogar aus dem Kaiserhaus Kritik geäußert. Prinz Akishino sagte in einem Interview am 22. November 2018, dass die „religiöse Färbung“ des daijōsai „stark“ sei. Die Zeremonie sollte daher aus dem Privat-Budget des Kaisers bezahlt werden. 

Bemerkenswert für die Frage nach dem Konzept der Tennō-Institution ist der Homepage-Beitrag „inori no tabi“ („Gebetsreisen“) der Asahi-Zeitung vom April 2019, der mit zahlreichen Bildern auf Reisen des scheidenden Kaiserpaares zurückblickt. Die Reisen ins In- und Ausland werden als Form der Bewältigung von Leid dargestellt, das durch den Zweiten Weltkrieg oder durch Naturkatastrophen verursacht wurde. Erhellend für das Verständnis der Reisen des Kaisers an Kriegsschauplätze des Zweiten Weltkrieges ist das Protokoll der Expertenkommission von der Sitzung am 27. Oktober 2016. In den Beratungen werden Reisen zu mehreren Kriegsschauplätzen „irei no tabi“ genannt („Reisen zur Beruhigung der Seelen Verstorbener“). 

Die Darstellung der Reisen durch die Asahi-Zeitung, die Wortmeldung von Prinz Akishino sowie die Entscheidung von Akihito zur Abdankung und die damit verbundene Fernsehansprache vom 8.8.2016 zeigen, dass die kaiserliche Familie nach einer zeitgemäßen Konzeption des Tennō-Amtes strebt, in der Tradition und Moderne miteinander verbunden werden. 

 

Klaus Antoni: "Überlegungen zum religiösen Kern des daijōsai"

Der Thronwechsel des Jahres 2019 und die damit einhergehenden offiziellen Rituale und Zeremonien haben die japanische Tennō-Institution wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, in Japan selbst wie auch international. Über die zeremonielle Gestaltung von Abdankung des Tennō Akihito und nachfolgender Inthronisation seines Sohnes Naruhito hinaus gilt das Interesse meist der rechtlichen Stellung wie auch politischen Funktion des Kaiserhauses im gegenwärtigen Japan. Darüber sollte jedoch ein weiterer, mit den beiden genannten aufs Engste verwobener Problemkomplex nicht aus dem Blickfeld geraten: die religiösen Implikationen des japanischen Kaisertums. Unter den religiös konnotierten Zeremonien des Thronwechsels kommt der Feier des daijōsai („Großes Kosten“), die im Kontext des gegenwärtigen Thronwechsels am 14. und 15. November 2019 begangen wird, eine zentrale Rolle zu. 

Im Gegensatz zu einer Reihe staatlicher Zeremonien im Umfeld des Kaiserhauses, welche erst mit der Errichtung des modernen Kaiserreiches Japan begründet wurden, kann das daijōsai auf eine authentische, gleichwohl lückenhaft tradierte Geschichte zurückblicken. Im siebten Buch des heianzeitlichen Zeremonialwerks Engi-shiki (907-915) liegt eine umfassende Darstellung zum Ablauf des daijōsai vor. Werden angeschlossene Rituale wie das chinkonsai außer Betracht gelassen, lässt sich eine generelle Dreiteilung des Geschehens erkennen: 1. Die öffentlichen Vorbereitungszeremonien, die mit Anbau, Ernte und feierlicher Übergabe des im Ritus verwendeten Reises verbunden sind, 2. der geheime Zentralritus, in dessen Verlauf der künftige Tennō in tiefer Seklusion ein gemeinsames Kommunionsmahl mit den Gottheiten abhält, 3. das abschließende Festbankett. Näheres zum Ablauf des zentralen Speiseritus ist jedoch erst einer späteren Quelle, den „Glückwunschworten der Nakatomi“, aus dem Jahre 1142 zu entnehmen. Hier zeigt sich, dass der gemeinsame Genuss der zwei Formen von Heiligem Trank (shiroki und kuroki), d.h. Schwarzem und Weißem Sake, den eigentlichen Kern der Handlung markiert. 

Davon ausgehend thematisiert der Vortrag die religiöse Bedeutung von Sake und Heiligem Trank im Kontext des geheimen Zentralritus, der als ein sakramentales Kommunionsmahl gesehen werden kann. In diesem Zusammenhang erfährt die Funktion einer der rituell Agierenden, der sog. „Tochter des Sake“ (sakatsuko), eine besondere Aufmerksamkeit. Ihr Auftreten im Ritual weist auf älteste Formen archaischer Religiosität in Japan. Das daijōsai offenbart, dass der neue Tennō seine Position durch eine heilige Kommunion mit den Gottheiten erfährt. Die Angaben der historischen Quellen zeigen somit den eminent religiös-spirituellen Kern des daijōsai, der auch durch abweichende Neuinterpretationen nicht verschleiert werden kann. Es ist zu fragen, wie diese religiöse Fundierung des Rituals mit den staatspolitischen Gegebenheiten Japans im Jahre 2019 zu vereinbaren ist.

 

Gregor Paul: "Wenn Religiosität die Politik regiert ... Göttlichkeit der Japaner, Tennōismus und ‚Kokutai no hongi'"

Der kurze Vortrag soll zeigen, wie das in Japan Jahrhunderte lang und bis Ende des Zweiten Weltkriegs propagierte Konzept eines Götterlandes zu – nach diesem Konzept begründbaren – Gräueln wie selbst dem Nanjing-Massaker führte. Es soll damit ein Beispiel für die Gefahren (quasi) sakraler Herrschaft gegeben werden. Freilich bleibt auch dabei unbestritten, dass Ursachen und Motive der Verbrechen eines solchen Regimes nie ausschließlich religiöser Art sein dürften.

Um wiederholten Einwänden wenigstens durch Hinweise zu begegnen, sei angemerkt, dass der verwendete Religionsbegriff Vorstellungen des Göttlichen einschließt. Begriffe einer atheistischen Religion sind gegenstandslos und überdies extrem irreführend. Insbesondere sind der Marxismus und die durch Marxismus, Leninismus, Stalinismus und Maoismus zu verantwortenden Verbrechen schon rein logisch gesehen weniger schlüssig und verbindlich begründbar als religiös bedingte Verbrechen. Gottesglaube, Offenbarungs­glaube, von einem Versprechen auf ein jenseitiges Leben nicht weiter zu reden, sind von signifikant höherer existenzieller Relevanz und mit signifikant höherer Gewissheit verbunden als irgendeine ‚marxistische‘ Lehre.  

Schließlich sei auch darauf hingewiesen, dass kontextualistische Argumente  die Ausführungen nicht entkräften können.

Die Lehre vom Götterland Japan dürfte in Ansätzen schon im Kojiki und Nihongi nachweisbar sein. Besonders einflussreich wurde sie mit Mabuchi, Norinaga und anderen Vertretern der Kokugaku. Im Kokutai no hongi fand sie dann die für die Politik Japans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmende – und bei Leugnung mit einer Androhung der Todesstrafe verbundene – Gestalt. Folgende Merkmale waren für sie und den mit ihr formulierten Tennōismus kennzeichend:

  1. Der Tennō stammt letztendlich von der Sonnengöttin Amaterasu Ōmikami 天照大神 ab und ist deshalb selbst ein Gott (aramikami).
  2. Seit den Anfängen des japanischen Staates regierten die Tennōs in einer in Abstammung und Legitimation ungebrochenen Linie. 
  3. So ist Japan ein göttliches Land (shinkoku 神国, shinshū 神州). 
  4. Die Beziehung zwischen gewöhnlichen Japanern und dem Tennō ist nicht nur ein Verhältnis zwischen Beherrschten und Herrscher, sondern auch eine Verbindung zwischen wohlwollendem (großzügigem) Vater und dankbaren Kindern. Die Japaner bilden eine harmonische Familie. Japan ist ein „Familienstaat“ (kazoku kokka). 
  5. Deshalb sollten die Japaner dem Tennō unbedingte Loyalität (chū 忠) und kindliche Pietät ( 孝) erweisen. Da der Tennō ein Gott ist, darf man sich nie gegen ihn stellen. Falls erforderlich, sollte ihm jeder Japaner bereitwillig sein Leben opfern. Da Loyalität und kindliche Pietät unlösbar miteinander verbunden sind (chūkō ippon 忠孝一本), kann es zu keinem Konflikt zwischen ihnen kommen. 
  6. Da Japan seinem Wesen nach ein göttlicher Familienstaat ist, der sich in (vergleichsweiser) insularer Isolation entwickelte, blieben die Japaner von äußerlichen Einflüssen weithin unberührt und zeichnen sich dement­sprechend durch Reinheit und Homogenität aus. 
  7. Dies wiederum trägt zur weiteren Erklärung der Tatsache bei, dass die Japaner ein friedliches, ehrliches und harmonisches Miteinander hoch­schätzen und Egoismus und Streit ablehnen. 
  8. Göttlichkeit, Reinheit, Harmonie und Tugenden wie Ehrlichkeit, Loyalität und Pietät dokumentieren, dass Japan und die Japaner nicht nur einzigartig, sondern anderen Nationen, Rassen und Völkern auch axiologisch – und dabei in erster Linie moralisch – überlegen sind. 

U.a. stellt das Kokutai no hongi kategorisch fest: „Unser Land ist ein göttliches Land, von einem Kaiser regiert, der ein lebender Gott ist". So konnte das Konzept der Göttlichkeit in der Tat dazu genutzt werden, um Imperialismus und grausamen Krieg als moralische Verpflichtungen zu rechtfertigen, denen zufolge auch anderen Länder und Völkern die überlegenen Errungenschaften des göttlichen Japan zu vermitteln waren, der vollkommensten Gesellschaft der Welt. Der japanische General Matsui Iwane 松井磐根(1878-1948) bezeichnete das Massaker von Nanjing (1937) als Bestrafung eines widerspenstigen jün­geren Bruders durch einen liebenden älteren Bruder. I.Ü. auch ein Beispiel für den Synkretismus des Tennōismus, der auch Konzepte eines staatsaffirmativen Neo-‚Konfuzianismus‘ einbezog. 

Der Inhalt des Vortrags basiert auf unter den folgenden Titeln veröffentlichten Studien:

  1. Einführung in die Interkulturelle Philosophie.WBG 2008.
  2. Das Buch Mengzi im Kontext der Menschenrechtsfrage (mit Wolfgang Ommer­born und Heiner Roetz). 2 Bde. Bochum: LIT 2011. Der von mir verfasste Bd. 2 ist ausschließlich Japan gewidmet. Zum Thema vgl. vor allem Kapitel VII.4 und VIII.2.
  3. Philosophie und Literatur in der Geschichte Japans. Bochum: projektverlag 2018.

In allen Veröffentlichungen geht es auch um methodologische Fragen wie die des Kulturzentrismus und der Kontextualisierung. Vgl. dazu vor allem Titel 2, Bd. 2, Kapitel I, sowie Vorwort und Resümee zu Titel 3.