Uni-Tübingen

Projektbereich F: "Mobilisierung"

Beschreibung

Im Projektbereich F steht die Frage im Zentrum, welchen Einfluss Mobilisierungsphänomene auf das Wechselverhältnis von Bedrohungsdiagnose und Bewältigungspraxis nehmen können und welche Rolle ihnen im Prozess des re-ordering zukommt. Mobilisierbar sind einerseits Akteure, Gruppen und Gesellschaften, andererseits Ressourcen im weitesten Sinne. Da es sich bei Mobilisierung stets um einen angeleiteten Prozess handelt, rücken Fragen nach agency und Macht in den Vordergrund, die – so unsere Grundannahme – durch Überzeugung, Belohnung oder Zwang umgesetzt werden kann. Um Mobilisierungsphänomene auf breiter empirischer Basis zu analysieren, ist der Projektbereich F interdisziplinär angelegt. Die sieben Teilprojekte umfassen nahezu den gesamten globalen Raum. Die Untersuchungszeiträume erstrecken sich von der Spätantike bis in die Gegenwart.

 

Projekt F01 (Blochmann/Meier) analysiert die re-ordering-Phase im Oströmischen bzw. Byzantinischen Reich der Jahre ca. 610-630 und fragt nach den (macht-)politischen, ökonomischen, administrativen, kulturell-religiösen und kommunikativen Prozessen, die eine bis dahin singuläre Mobilisierung von Menschen und Ressourcen zur Wiederherstellung der existenziell bedrohten Ordnung ermöglichten. Dabei werden besonders die zeitgenössischen Veränderungen im Kaiserbild sowie die Funktion des großen Restitutionsaktes im Jahr 630 in den Blick zu nehmen sein.

Projekt F02 (Grabowsky/Patzold) untersucht, wie in der bedrohten Ordnung des zerfallenden Karolingerreichs um 900 Akteure in drei Regionen weltliche und kirchliche Rechtstexte einerseits und historische Erinnerung andererseits als Ressourcen des re-ordering mobilisierten. Das Projekt geht davon aus, dass Rechtstexte und historische Erinnerung wesentlich waren für die Bewältigungspraxis, zugleich aber in der Manuskriptkultur um 900 nicht ohne weiteres zur Verfügung standen: Sie mussten erst im Rückgriff auf Manuskripte durch Exzerpieren, Kompilieren usw. hergestellt werden, damit sie ihrerseits für die Mobilisierung von Akteuren für die Bewältigungspraxis zur Verfügung standen.

Projekt F03 (Holzem/Ridder) widmet sich, in interkonfessionellem, europäisch-komparatistischem und die Epochenschwelle von 1500/1517 überschreitendem Zugriff, weithin wirkenden Predigten und Schauspielen des 14.-17. Jahrhunderts sowie der in ihnen fassbaren Bedrohungskommunikation. Analysiert werden drei Bedrohungsszenarien ('Ewige Verdammnis im Weltgericht', 'Jüdische Verschwörung', 'Konfessionelle Verketzerung') unter der Fragestellung, inwieweit sich sprachlich-textuelle, rhetorisch-theatrale und religiös-soziale Schemata der Konstruktion von Bedrohung und Strategien der Mobilisierung zur Abwendung von Bedrohung erkennen lassen.

Projekt F04 (Dürr) untersucht re-ordering-Versuche innerhalb des spanischen Kolonialreiches, speziell im Großraum Panama, nach dem schottischen Darien-Kolonialprojekt (1697-1700). Gefragt wird, auf welchen Ebenen und mit welchen Mechanismen und Kommunikationsstrategien Ressourcen mobilisiert wurden. Andererseits wird auch beleuchtet, wie sich weitere Faktoren (Interessen indigener Akteure vor Ort, Zeit- und Ressourcenknappheit, Struktur des spanischen Kolonialreiches) auf diese Mobilisierungsprozesse auswirkten.

Projekt F06 (Scheer) untersucht zwei zentrale Protestbewegungen der 1970er/1980er Jahre (Friedens- bzw. Anti-Atomkraftbewegung und Frauenbewegung) unter der Fragestellung, welche Rolle Humor in ihnen spielte. Untersucht wird vor allem, in welchem Verhältnis die (nach außen gerichteten) subversiven und (nach innen wirkenden) gemeinschaftsbildenden Funktionen des Humors zueinander standen und welche Rolle Emotionen für Mobilisierungsleistungen und –strategien zukommen kann.

Projekt F07 (von Bernstorff/Hasenclever) untersucht an konkreten Fallbeispielen, (1) unter welchen Umständen sich lokale Gruppen, deren Sozial- und Wirtschaftsordnungen vom sog. Land Grabbing bedroht sind, gegen Landnahme durch global agierende Unternehmen organisieren, (2) welche Rolle dabei die transnationale Bewegung gegen Land Grabbing und die jeweils dominante völkerrechtliche Semantik spielt und (3) wie sich die lokalen Ordnungen in Folge des Protestes und der lokal-transnationalen Kooperation wandeln. Durch die Fallvergleiche soll untersucht werden, wie sich die Mobilisierungsdifferenzen zwischen den Gruppen erklären lassen und welchen Einfluss transnationale Allianzen und die dominante völkerrechtliche Semantik auf das Protestverhalten und das damit einhergehende re-ordering lokaler Beziehungen ausüben.

Die im Projektbereich F zusammengeführten Teilprojekte nehmen Ordnungen in den Blick, die aus der Perspektive der Akteure fundamentalen, ja universalen Charakter besitzen: übergreifende Reiche, religiöse Ordnungen, die Geschlechterordnung, die Lebenswelt lokaler Gesellschaften usw. Partikularinteressen spielen in dieser universalistischen Wahrnehmung scheinbar keine Rolle; dennoch sind sie in unterschiedlichem Grade nachweisbar. Modi der Universalisierung von Einzelinteressen spielen für die Analyse der Mobilisierungsphänomene und ihrer Wirkungen auf das Spannungsverhältnis von Bedrohungsdiagnose und Bewältigungspraxis eine besondere Rolle. Sie manifestiert sich in der zentralen Bedeutung, die (Bedrohungs-)Kommunikation in diesem Kontext besitzt: Mobilisierungseffekte lassen sich mitunter gar aus der kommunikativen Imagination bzw. Konstruktion von Ordnungen gewinnen, mit teils gravierenden Folgen für die ‚realen‘ Ordnungen (vgl. F03). Die argumentativen, rhetorischen und affektiven Strategien der Mobilisierung werden daher von allen Teilprojekten zum Gegenstand gemacht und in gemeinsamen Diskussionen auf die Kategorien Überzeugung, Belohnung oder Zwang bezogen werden müssen, um sie für die Frage nach typischen, d.h. epochen- und raumübergreifenden re-ordering-Prozessen nutzbar zu machen.

Mobilisierung wird zumeist von starken Emotionen begleitet, die wiederum In- und Exklusionsprozesse modulieren. Sei es, dass dabei transzendente Faktoren bemüht (F01, F03) oder konkrete Feindbilder evoziert bzw. ausgeformt werden (F06, F07) – der (intentionale und nichtintentionale) Rekurs auf Emotionen erschließt Mobilisierungspotentiale und wirkt sich damit auf Bedrohungsdiagnosen und Bewältigungspraxis aus. Insbesondere das Teilprojekt F06, das am Beispiel Humor die Rolle von Emotionen in Mobilisierungsprozessen untersucht, wird dem Projektbereich in dieser Hinsicht wichtige Expertise zur Verfügung stellen. Indem es die ambivalente Rolle von Humor in Protestbewegungen thematisiert, verweist es zugleich aber auch auf den jeder Form von Mobilisierung inhärenten Machtbezug: Wer hat Interesse an Mobilisierungen und wer ist in der Lage, diese auch um- bzw. durchzusetzen? Wie verhalten sich partikulare Machtinteressen und Universalisierungsstrategien zueinander, mit welchen Mitteln können Akteure Mobilisierungsdruck begegnen und welche Effekte ergeben sich aus machtinduzierter Bewältigungspraxis für das re-ordering in bedrohten Ordnungen?

Die Erörterung dieser Fragen verspricht Ergebnisse für den Projektbereich wie für den SFB insgesamt: Innerhalb des Projektbereichs kann über die Diskussion machtförmiger Prozesse ein differenzierteres Verständnis von Mobilisierungsphänomenen mit Blick auf Bewältigungspraxis in bedrohten Ordnungen entstehen, das auch die Interaktion mobilisierender und mobilisierter Akteure berücksichtigt. Für den SFB insgesamt entsteht neues Diskussionsmaterial mit Blick auf das zentrale Forschungsziel der Hinterfragung traditioneller Epochengliederungen: Die geläufige Ansicht, wonach machtförmiges Handeln in der ‚Vormoderne‘ vorwiegend einzelnen Akteuren oder Eliten möglich war und im Übergang zur Moderne allmählich staatlich eingehegt worden ist, lässt sich anhand der Teilprojekte des Bereichs F kritisch überprüfen. Institutionalisierte Macht wird bereits in Antike und Mittelalter als Mobilisierungsreservoir genutzt (F01, F02), wohingegen neuzeitliche Staaten sich u.a. mit kritischen sozialen Bewegungen auseinanderzusetzen haben (die mitunter ihrerseits institutionellen Charakter gewinnen können) – nicht nur im außereuropäischen Raum (F04, F07), sondern durchaus auch in Europa (F06).

Mobilisierungen beeinflussen das Wechselverhältnis von Diagnose und Praxis. Voraussetzung dafür sind in der Regel nicht nur Überzeugung, Belohnung oder Zwang gegenüber Akteur(sgrupp)en, sondern auch die Aktivierung von unterschiedlich definierbaren Ressourcen: materielle Güter (F01), religiöse Vorstellungen (F03), spezifische Formen des Wissens (F04) oder abstrakte Größen wie Recht und Geschichte (F02). Anhand verschiedener Ressourcenbegriffe können wir die Frage nach Zusammenhängen zwischen Formen von Ressourcen und Bewältigungspraxis einerseits sowie mobilisierten Akteuren und Ressourcen innerhalb des re-ordering-Prozesses andererseits näher analysieren.

Somit leistet der Projektbereich F für den SFB dreierlei: Er entwickelt (1.) in interdisziplinärem, global angelegtem und epochenübergreifendem Zugriff Vorschläge zum präziseren Verständnis der Auswirkungen machtinduzierter Mobilisierungsprozesse auf das re-ordering in bedrohten Ordnungen. Er bestimmt dabei (2.) das Verhältnis von Akteuren und Ressourcen, von partikularen und universalen Interessen sowie von individueller und institutionalisierter Macht exakter. Er trägt (3.) dazu bei, traditionelle Raum- und Zeitkategorien neu zu durchdenken, indem ähnliche Phänomene in unterschiedlichen Zeitschnitten und verschiedenen Regionen über die Frage nach den Wirkungen von Mobilisierungsprozessen auf das Wechselverhältnis von Bedrohungsdiagnosen und Bewältigungspraxis miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei werden Fragen nach der Bedeutung unterschiedlicher Kommunikationsbedingungen und daraus resultierender divergenter Zeitregimes ebenso in den Blick kommen wie die damit zusammenhängenden unterschiedlichen Strategien, Bedrohungen zu kommunizieren.