Uni-Tübingen

Projektbereich E: "Diagnose - Bewältigungspraxis"

Beschreibung

Im Projektbereich E wird die Dynamik zwischen Diagnose und Bewältigungspraxis analytisch und fallvergleichend bearbeitet. Einerseits werden ausgehend von den Teilprojekten Fragen der Operationalisierung –wie Diagnosen schrittweise in Praxis übersetzt werden – erörtert. Andererseits analysieren die WissenschaftlerInnen rekursiven Anpassungen – d.h. die Rückwirkungen von Erfahrungen, die sich im Prozess der Operationalisierung ergeben, auf Diagnosen. Die Wechselwirkungen zwischen Diagnosen und Bewältigungspraxis werden als „Lernen“ verstanden. Ziel der Arbeit des Projektbereichs E ist es, generalisierbare Muster, Mechanismen, Praxislogiken sowie Kriterien für eine Typologie bedrohter Ordnungen zu erarbeiten. Die Teilprojekte sind so zusammengestellt, dass sie epochenübergreifende und interdisziplinäre Fallvergleiche ermöglichen.

Der Projektbereich E verfolgt die vier langfristigen Forschungsziele des SFB 923. Für die Historisierung aktueller Krisendiagnosen bieten sich in den Teilprojekten vielfältige Optionen an (z.B. Wirtschaftskrisen, drohender Arbeitskräftemangel, Diversifizierung, Erosion der Mittelschichten Welternährungssicherheit). Darüber hinaus beschäftigen sich alle Untersuchungen mit Modi schnellen sozialen Wandels. In diesem Kontext kann die Berücksichtigung der in den Teilprojekten angelegten Variation von Zeiträumen und Geschwindigkeiten des Wandels zu einer Präzisierung des Begriffs beitragen. Auf Basis der interdisziplinären und epochenübergreifenden Perspektiven des Projektbereichs können konventionelle Raum- und Zeitkategorien hinterfragt und überdacht werden. Die Grundlagenreflexion der Sozial- und Kulturwissenschaften unter den Bedingungen der Globalisierung wird durch die thematische Ausrichtung der Teilprojekte gewährleistet.

Aufgrund der zentralen Stellung der Achse zwischen Bedrohungsdiagnose und Bewältigungspraxis im Prozess des re-ordering kommt dem Projektbereich E eine wichtige Rolle dabei zu, eine Typologie bedrohter Ordnungen vorzubereiten. Dies kann allerdings nur in enger Kooperation mit den Projektbereichen F und G geschehen, ohne deren Arbeiten kein umfassendes Verständnis des re-ordering von bedrohten Ordnungen möglich ist. In diesem Zusammenhang müssen unterschiedliche Wege der Typologisierung ausprobiert, abgewogen und weiterentwickelt werden. Wie in den Teilprojektzusammenfassungen deutlich wird, besteht eine Möglichkeit darin, Ordnungen entlang der Sachdimension, die primär als bedroht wahrgenommen wird bzw. auf die sich die Bewältigungspraxis primär bezieht, zu typologisieren (z.B. Wirtschaft/Subsistenz, Status/Ungleichheit, Politik/Herrschaft, Existenz). Eine andere Möglichkeit, die durch das analytische Modell des SFB 923 ermöglicht wird, ist es, Typologien auf Basis von Prozesslogiken des re-ordering zu entwickeln. In diesem Rahmen soll geprüft werden, inwieweit sich Operationalisierungsformen im Hinblick auf (a) Akteurstypen, (b) Praxisformen und (c) Effekte systematisieren lassen.

So kann gefragt werden, welchen Unterschied es macht, ob Personen tendenziell eher individuell agieren, ob Netzwerke oder Gruppen kollektiv handeln und welche Funktionen institutionell legitimierte Repräsentanten einer Ordnung übernehmen. Ferner kann erörtert werden, ob sich Operationalisierungen von Bedrohungsdiagnosen dadurch unterscheiden lassen, wie sich das Verhältnis von innovativen zweckrationalem Handeln und selbstverständlich affirmierten Skripten gestaltet. Weitere Ansatzpunkte für mögliche Generalisierungen sind die Unterschiede, die sich bezogen auf individuelle bzw. kollektive Ziele und die Rolle von intendierten bzw. unintendierten Konsequenzen von Bewältigungspraxis für das re-ordering ergeben. Prozesse der Anpassung sollen daraufhin untersucht werden, welche Aspekte von Diagnosen sich als eher falsifikationsoffen bzw. falsifikationsresistent erweisen und inwiefern dies damit zusammenhängt, ob maßgebliche Akteure tragende Säulen einer Ordnung als bedroht betrachten.

Allgemein ist für das Verständnis des Zusammenhangs von Operationalisierung und Anpassung wichtig, ob Bedrohungsdiagnosen eher pluralisierende oder homogenisierende Effekte auf Ordnungen haben. Darüber hinaus soll geprüft werden, ob die vergleichende und kontrastive Betrachtung von Übergängen zwischen Verdichtung und Entspannung von Bedrohungssituationen für eine Typologisierung bedrohter Ordnungen hilfreiche Erkenntnisse vermittelt. In diesem Zusammenhang gilt es vor allem auf Kippmomente zu achten, in denen sich aufgrund von Alarmierung bzw. dem Abflauen von Bedrohungskommunikation Eigenschaftsveränderungen bedrohter Ordnungen beobachten lassen.

Im Teilprojekt E01 (Schmidt-Hofner/Weisweiler) wird die Beziehung zwischen Bedrohungsdiagnose und Bewältigungspraxis anhand der italisch-römischen Senatsaristokratie im 5. Jh. untersucht. In diesem Zusammenhang kann das re-ordering von Hierarchie- und Statusordnungen einer analytischen Betrachtung zugänglich gemacht werden. Dabei soll auf das Verhältnis von routinierten Skripten und innovativen Strategien fokussiert werden, mit denen die Senatsaristokratie versuchte, die Bedrohung ihrer Statusposition und der etablierten Ordnung zu bewältigen. Auch lässt sich aufgrund des Forschungsdesigns des Projekts nach Übergängen zwischen zeitlicher Verdichtung und Entspannung im Kontext bedrohter Ordnungen fragen.

Das epochenübergreifende Teilprojekt E02 (Meier/Patzold/Schmidt-Hofner) analysiert anhand des Falls von agrarischen Arbeitskräften das Verhältnis von Bedrohungsdiagnosen und Bewältigungspraxis im Kontext spätantik-frühmittelalterlicher Subsistenz- und Mobilitätsordnungen. Wie in Teilprojekt E01 und E03 können auch in E02 besonders gut die durch Selbstalarmierungen erzeugten Dynamiken zeitlicher Verdichtung untersucht werden. Für den Projektbereich E sind die Fragen nach rechtlich-administrativen Operationalisierungen von Bewältigungspraxis sowie nach Möglichkeiten und Grenzen sozialen Lernens, die in diesem Teilprojekt anhand von drei Zeitschnitten – die Jahre um 375, um 530 und um 830 – untersucht werden, von besonderer Bedeutung.

Ausgehend von den Auswirkungen des Börsencrashs von 1720 untersucht das Teilprojekt E04 (Dürr/Menning) das Wechselspiel von Bedrohungsdiagnosen und Bewältigungspraxis in den Metropolen London und Paris. In den Projektbereich bringt das Teilprojekt insbesondere die Frage nach der Bedeutung von Vertrauen für das re-ordering ein. Es thematisiert aber, wie E01, E03 und E06, das Verhältnis von räumlicher Verdichtung und Dispersion für bedrohte Ordnungen. Besonders gut kann anhand dieses Teilprojekts darüber nachgedacht werden, ob Bedrohungen unter den Bedingungen von Anwesenheitsgesellschaften andere Dynamiken entfalten als unter Bedingungen, in denen personales Vertrauen und Kopräsenz eine geringere Rolle spielten.

Im Teilprojekt E05 (Féaux de la Croix/Gestwa/Frie) steht die Bedrohung der agrarischen Wirtschafts- und Subsistenzordnung aufgrund von Bodendegradation im Mittelpunkt des Interesses. Diese vergleichend angelegte Untersuchung verspricht Erkenntnisse darüber, wie sich im Anschluss an Bedrohungsdiagnosen unterschiedliche sozialräumliche Ebenen der Bewältigungspraxis (lokale, regionale, nationale und transnationale) miteinander verzahnen. Darüber hinaus kann von diesem Teilprojekt ausgehend die Frage verfolgt werden, wie spezifische Bedrohungsdiagnosen über sachliche (z.B. Ökologie, Technik, Verwaltung, Kultur) und institutionelle (Sub)Ordnungsgrenzen (Staaten, NGOs, transnationale Organisationen) hinweg mobilisiert und übersetzt werden können.

Das Teilprojekt E06 (Nieswand) fokussiert auf das re-ordering von diversen Bevölkerungen im Kontext von urbanen Mobilitäts- und Statusordnungen. In den Projektbereich kann dieses Teilprojekt insbesondere Fragen nach den Auswirkungen von Bedrohungen auf soziale und ethnische Grenzziehungen im Kontext von Interaktionsordnungen einbringen. Außerdem kommt, wie in E01, E03 und E04, der Wirkung von Bedrohungsdiagnosen und Bewältigungspraxis auf urbane Ordnungen ein besonderes Augenmerk zu. Im Anschluss an E03 können systematische Fragen nach der Relevanz von Anwesenheit für das Verständnis sozialer Ordnung gestellt werden.

Im Rahmen von Teilprojekt E07 (Alex) wird die Dynamik zwischen Bedrohungsdiagnosen und Bewältigungspraxis in Post-Katastrophensituationen untersucht. Dabei wird es insbesondere um Fragen existentieller Bedrohung und des Umgangs mit menschlichem Leid gehen. Das Teilprojekt fokussiert auf eher kurzfristige Prozesse des re-ordering nach einer Katastrophe. Im Rahmen humanitärer Hilfseinsätze spielen, wie im Teilprojekt E05, verschiedene sozialräumliche Referenzebenen der Bewältigungspraxis und das Verhältnis unterschiedlicher Wissensordnungen eine wichtige Rolle. Auch lassen sich, vergleichbar mit Teilprojekt E06, Fragen nach der Rolle von sozialen Grenzziehungen und Hierarchie im Kontext von Bewältigungspraxis stellen.