Uni-Tübingen

Projektbereich G "Reflexion"

Beschreibung

Der Projektbereich G untersucht die Wechselwirkungen, die sich zwischen Reflexionen und der zentralen Achse Diagnose - Praxis ergeben. Wir fragen nach der Bedeutung von Identität für das re-ordering und untersuchen vorrangig zwei gegenläufige Bewegungen: Es geht zum einen um die Kontingenz von Ordnungen, die Menschen in Phasen der Selbstalarmierung im Zuge von Bedrohungsdiagnosen und Bewältigungspraxis erfahren und reflektieren. Gerade in Phasen der Reflexion über die eigene Ordnung wird Kontingenz möglich und sichtbar. Zum anderen erzeugt die Reflexion über Ordnung ein anderes, sich änderndes Ordnungsverständnis, das seinerseits Effekte auf die Wechselbeziehung zwischen Diagnose und Praxis hat. Ordnungen erweisen sich dabei als lebensweltliche Phänomene, welche die Wahrnehmungen von Akteuren prägen und die Wahl angemessener Diagnosen und Bewältigungsstrategien anleiten.

Daraus ergibt sich ein enges, interdependentes Wechselspiel zwischen Reflexion über das Selbstverständnis der eigenen Ordnung bereits bei der Diagnose einer bedrohten Ordnung und zwischen Reflexion über Bewältigungspraktiken, die sich als erfolgreich (oder nicht) erweisen und damit einmal mehr das grundsätzlich jeder Ordnung inhärente Kontingenzpotenzial sichtbar werden lassen. Diagnosen und erfolgreiche wie erfolglose Bewältigungspraktiken prägen das Selbstverständnis der Akteure hinsichtlich ihrer Ordnung. Die Reflexion über Ordnung hat somit grundlegende Auswirkungen zum einen auf das Selbstverständnis und die Identitätsbestimmung der jeweiligen Akteure hinsichtlich ihrer Ordnung(-en). Sie ist zugleich untrennbar mit dem Prozess der praktischen Bewältigung von Bedrohungen verbunden. Ordnungsbezogene Reflexionen hinterfragen Selbstverständnisse ebenso wie normative Wirkungen.

Der Projektbereich G behandelt Selbstthematisierungen, die sich auf den gesamten Prozess des re-ordering auswirken. Hier liegt eine der wesentlichen Leistungen von Projektbereich G für den SFB insgesamt: Denn die Frage nach dem Selbstverständnis und der Selbstreflexion in verschiedenen Ordnungen – religiösen (G01; G02), sozialen, politischen, nationalen (G04), wissenstheoretischen (G05), kulturell (G03) oder medial konstruierten, fiktionalen und potenziellen Ordnungen (G06; G07) – wird dazu beitragen, unsere Konzeption von ‚Ordnung‘ typologisch und funktional auszudifferenzieren. Der Projekbereich G ist interdisziplinär angelegt und umfasst sieben Teilprojekte:

Das Teilprojekt G01 (Drecoll/Männlein-Robert) analysiert religionsphilosophische Schriften des Platonikers Porphyrios und des Politikers Sossianos Hierokles gegen die als Bedrohung wahrgenommenen zeitgenössischen Christen auf ihre Strategien zum Erhalt und der Neuordnung der paganen Lebensordnung und Religion. Ihre re-ordering-Strategien sind jedoch nur aus der Perspektive ihrer christlichen Gegner (Eusebios; Augstinus) erhalten, deren christlich motivierte re-ordering-Strategien sich auch in Form literarischer Reflexion niederschlagen.

Das Teilprojekt G02 (Hirbodian) untersucht anhand klausurierter Dominikanerinnen in Württemberg sowie (nicht zu Klausur verpflichteter) süddeutsche Frauenstifte im 15./16.Jh. jeweils bedrohliche, von außen herangetragenen Reformforderungen. Indem diese Gemeinschaften mit Reformen bzw. der (protestantischen) Infragestellung der klösterlichen Lebensweise konfrontiert sind, reflektieren sie ihre eigene innere (religiöse) Ordnung als bedroht. Die re-ordering-Strategien der geistlichen Frauen sind dabei in einer Art „Laborsituation“ zu beobachten.

Das Teilprojekt G03 (Johler) untersucht kulturelle Hybridität in Istrien vom späten 19. bis ins 20.Jh. und analysiert die aus verschiedenen Ordnungsperspektiven beschreibbaren Bedrohungswahrnehmungen, die aufgrund der eigenwilligen und extremen ethnischen und kulturellen Heterogenität immer wieder virulent wurden. Dabei werden Aspekte der Bedrohungskommunikation ebenso wie perspektivgebundene Modi der Reflexion sowie Strategien des re-ordering vor dem Hintergrund der für Istrien (als von den Habsburgern reklamierten ‚Versuchsstation‘) diskutierten Multikulturalität resp. ‚kulturellen Verschmelzung‘ analysiert.

Das Teilprojekt G04 (Frie) untersucht Bedrohungsdiskurse, die mit dem Ende des British Empire in den 1960er und 1970er Jahren in den Siedlerkolonien Kanada, Australien und Neuseeland dominant wurden. Das Selbstbild und Ordnungsverständnis der weißen Siedler, bestehend aus Elementen wie „whiteness“, „Britishness“ und „family values“, wurde durch die Neuausrichtung Britanniens auf Europa als bedroht reflektiert. Die daraus resultierenden re-ordering-Strategien sollen mit Blick auf die jeweiligen nationalen wie kulturellen Identitäten analysiert werden.

Das Teilprojekt G05 (Tümmers/Wiesing) untersucht die Bedrohungskommunikation um antimikrobielle Resistenzen (AMR) als Einbruch in die seit dem späten 19. Jh. etablierte, als modern geltende ‚medizinische Ordnung‘, deren kontingenter Charakter sichtbar wird. Mithilfe eines wissensgeschichtlichen Ansatzes analysiert es gegenläufige Strukturmuster eines re-ordering der ‚medizinischen Ordnung‘ ab den 1990er Jahren in Forschung, Klinik und Gesundheitspolitik: einerseits „Rettung“ der traditionellen Ordnung, die Mikroben als „äußere“ Feinde ansieht; andererseits Neubewertung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses durch positive Funktionalisierung von Mikroben. Zudem werden die praktischen Auswirkungen dieser Strategien untersucht.

Das Teilprojekt G06 (Franke) untersucht multiple Bedrohungen in amerikanischen Rassenbeziehungen seit dem frühen 19. Jh. bis in die Gegenwart. Die mit der Rassenproblematik verschränkte Ambivalenz von Drogen, die ordnungserhaltend und ordnungszerstörend sein können, bedingt die unterschiedliche Funktionalisierung von deren (kulturell konstruiertem) Bedrohungspotenzial. Es geht um die Analyse bedrohter Machtordnungen, die sich durch konfligierende Bedrohungsszenarien und -diagnosen auszeichnen, ebenso um deren Ordnungsverständnis sowie multimedial reflektierte re-ordering-Strategien.

Das Teilprojekt G07 (Sachs-Hombach/Schild/Thon) befasst sich mit den durch die Anschläge vom 11. September 2001 ausgelösten Formen von Bedrohungskommunikation. Untersucht werden soll hier insbesondere die Rolle der Medien für die Diagnose des vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohungsszenarios im Kontext des „War on Terror“. Im Zentrum des Teilprojekts stehen dabei die in politisch-rechtlichen, künstlerisch-ästhetischen und öffentlich-journalistischen Diskursen zu beobachtenden Formen der medialen Reflexion über das nationale und kulturelle Selbstverständnis der USA sowie über die sich daraus ergebenden Möglichkeiten des re-ordering.

Dem SFB-Anliegen verpflichtet, etablierte historische Abgrenzungen und Epochengliederungen kritisch zu hinterfragen und durch die Applikation des Modells ‚Bedrohter Ordnungen‘ historische Abläufe und Prozesse neu zu interpretieren, ist der Projektbereich G transepochal aufgestellt: Die historische Reichweite der Teilprojekte reicht von der Spätantike (G01) über das Mittelalter (G02), das 19. (G03; G06) wie das frühe 20. Jahrhundert (G03; G05; G06) und die Mitte des 20. Jahrhunderts (G04; G06) bis hin zur Gegenwart und höchst aktuellen zeitgenössischen Phänomenen (G05, G06; G07). Anhand historisch wie räumlich – von verschiedenen Regionen Europas (G01; G02; G03; [G04]; G05) über die neue Welt (G04; G05; G06; G07) bis hin nach Australien und Neuseeland (G04) reichenden und zum erheblichen Teil globalen ([G01]; G04; G05; G07) – divergenter Konstellationen wollen wir anhand von Reflexion nach verbindenden und trennenden Elementen sowie Erklärungsmustern, Vorstellungen von Ordnung und reflexiven Strategien des re-ordering fragen.

Die Teilprojekte sind durch zahlreiche interdisziplinäre, thematisch und/oder methodisch beschreibbare, Verbindungslinien verschränkt. Hinsichtlich der inhärenten Genderthematik sind die Teilprojekte G02, G04, G06 und G07 miteinander verbunden, da hier eine genderspezifische Akteursperspektive das Wechselspiel zwischen Reflexion und Diagnose sowie Bewältigungspraktiken maßgeblich beeinflusst. Die untersuchten Ordnungen sind vielfach religiös motiviert, wie etwa in G01, G02, G06 und in G07, aber auch von Nationalkonzepten getragen (G03; G04; G07). Eine kulturelle Selbstvergewisserung im re-ordering wird in den Teilprojekten G01, G03, G04, G07 erkennbar. Medien als Kommunikationsformen sowie als Strategieinstrumente bestimmter Modi des re-ordering mit erheblichem Reflexionspotenzial spielen im gesamten Projektbereich G eine zentrale Rolle. Das Spektrum erstreckt sich von literarischen Propagandaschriften (G01) über schriftliche wie visuelle (und überhaupt multimodale), nicht-fiktionale Texte und Quellen (G02; G03; G04; G05) bis hin zu fiktionalen Medien und technischen Kommunikationsformen (G06; G07). Die Teilprojekte G03, G05 und G07 teilen den deutlichen Schwerpunkt auf der Bedrohungskommunikation und ihren unterschiedlichen Modi. Darüber hinaus stellen Konstellationen nach dem ‚Freund-Feind-Schema‘ (G04; G05; G07) sowie die Akzentsetzung auf der Frage nach dem Machtfaktor im Prozess des re-ordering (G01, G02, G04; G06; G07) deutliche Anknüpfungspunkte zu den Teilprojekten der Projektgruppe F (Mobilisierung) dar, die das Wechselverhältnis von Diagnose und Bewältigungspraxis nun ihrerseits anhand begleitender Mobilisierungs- und Machtphänomene untersucht. Besonders fruchtbare methodische Analogien ergeben sich im Projektbereich G unter den Teilprojekten G01, G02 und G04, da hier vergleichsbasierte Untersuchungen ähnlicher oder divergenter Reflexions-Phänomene und/oder -Räume im Kontext des re-ordering-Prozesses vorgesehen sind.