Uni-Tübingen

Teilprojekt E06: Bedrohung und Diversität im urbanen Kontext. Ein länderübergreifender Vergleich von ethnisch heterogenen und ungleichen Stadtteilen

Abstract

Teilprojekt E06 untersucht den Umgang mit ethnischer und sozialer Heterogenität in Frankfurt (Deutschland) und Murcia (Spanien) im Hinblick auf die Relevanz und Wirkung von Bedrohungsdiagnosen, die sich an alltägliche Konflikte und Probleme anschließen. Wenn Diversifizierungsprozesse allgemein oder Segmente diverser Bevölkerungen als bedrohlich wahrgenommen werden, so die These, führt die daran anschließende Bewältigungspraxis zu einem re-ordering von Stadtteilen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Relevanz von Grenzziehungen zwischen Gruppen für die Dynamik von Bedrohungsdiagnose und Bewältigungspraxis.

 

Projektteam

Projektleitung:
Prof. Dr. Boris Nieswand

Mitarbeiter/innen:

Dr. Damian Martinez

Moritz Fischer

Hilfskräfte

N.N.

Fachgebiete und Arbeitsrichtung

Empirische Sozialforschung

Projektbeschreibung

Zusammenfassung

Im Projekt E06 soll der Umgang mit ethnischer und sozialer Heterogenität in Frankfurt a.M. (Deutschland) und Murcia (Spanien) im Hinblick auf die Relevanz und Wirkung von alltäglichen Bedrohungsdiagnosen vergleichend und stadtteilbezogen untersucht werden.

Fragestellungen und Ziele

Migrationsbezogene Diversifizierung ist eine Entwicklung, die das Leben in vielen Städten, auch in nichttraditionellen Einwanderungsländern verändert hat. Aufgrund von demografischen Prozessen, der Öffnung von Arbeitsmärkten und globaler Fluchtmigration wird dieser Trend langfristig – wenn auch nicht linear – aller Voraussicht nach auch die Zukunft vieler europäischer Großstädte prägen. Das Wissen darüber, wie Städte und ihre Bevölkerungen die Herausforderung zunehmender Diversität und die abnehmende demografische Dominanz nationalstaatlicher Mehrheitsbevölkerungen bewältigen, ist eine stadtsoziologische Zukunftsfrage, zu deren Beantwortung das analytische Modell des SFB 923 einen wichtigen Beitrag leisten kann.

Im Anschluss an dieses Modell wird danach gefragt, welche Auswirkungen es auf soziale Ordnung hat, wenn Diversifizierung dominant als Bedrohung wahrgenommen wird. Es wird davon ausgegangen, dass, wenn Akteure die Diversität ihrer sozialen Umwelt als bedrohlich einschätzen, dies die Akzentuierung von Gruppengrenzen nach sich zieht. So können Bedrohungsdynamiken ethnische Partikularismen stärken, Brücken zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen schwächen und der Herausbildung lokaler Integrationsformen zuwiderlaufen. Allerdings lassen sich auch das Verwischen von Grenzen und die Ausweitung von Inklusionssphären als Bewältigungspraktiken von Bedrohungen verstehen. Je nachdem, welche Formen der Bewältigungspraxis hegemonial werden, hat dies einen maßgeblichen Einfluss auf das re-ordering eines Stadtteils.

Das Projekt E06 interessiert sich insbesondere für den Zusammenhang zwischen Quartierseffekten, Bedrohungsdiagnosen und sozialen Grenzziehungen. Durch die Untersuchung von Stadtteilkonstellationen können nicht nur die Situationen innerhalb einzelner Viertel, sondern auch die Aushandlung von sozialen und geographischen Grenzen zwischen Stadteilen einbezogen werden. Ein besseres Verständnis dieser Prozesse ist wichtig, weil Stadtteile entgegen vieler Segregations- und Ghettoisierungsbefürchtungen oft öffentliche Institutionen (z.B. Schulen, Ärzte, Supermärkte) mit angrenzenden Stadtvierteln teilen und sich aufgrund dieser Kontaktzonen nicht ohne weiteres von ihren Nachbar-Bezirken isolieren können.

Teiluntersuchungen: Frankfurt und Murcia

Den skizzierten Fragen wird mittels zweier vergleichender ethnografischer Stadteilstudien nachgegangen. Dies ermöglicht es, einen semi-strukturierten Vergleich mit den explorativen Ansprüchen ethnographischer Forschung zu verbinden und so die Wirkungen ansteigender und abflauender Bedrohungsdiagnosen auf die Wahrnehmung von Diversität und Formen sozialer Grenzziehung detailliert und kontextspezifisch nachzuvollziehen. Als Untersuchungsfeld wurden je zwei aneinandergrenzende Stadtviertel im prosperierenden Frankfurt (Deutschland) und im krisengeschüttelten Murcia (Spanien) ausgewählt, zwischen denen jeweils ein deutliches Diversitäts- und Ungleichheitsgefälle herrscht.

Frankfurt und Murcia haben in den letzten Jahrzehnten einen Prozess migrationsbezogener Diversifizierung durchlaufen, in dem der jeweilige Migrantenanteil nicht nur höher, sondern auch deutlich heterogener und globaler geworden ist. In beiden Städten zeigen sich vergleichbare Verbindungen zwischen ethnischer Heterogenität, sozialer Ungleichheit und sozial-räumlichen Siedlungsstrukturen. Migranten und ethnische Minderheiten besetzen oft untere Positionen in der Statushierarchie und konzentrieren sich in bestimmten Stadtteilen, ohne dass es zu mit den USA vergleichbaren sozialräumlichen Segregationsprozessen käme.

Relevant für die beiden Städte ist, dass die deutschen und spanischen Mehrheitsbevölkerungen traditionell ein auf Abstammung basierendes nationales Selbstverständnis haben und sich nur zögerlich als Einwanderungsregionen verstehen. Gleichzeitig verfügen beide Städte aber auch über eine Geschichte urbaner Heterogenität. In Frankfurt gibt es etwa eine für die Identität der Stadt wichtige Erinnerungskultur an die bis ins Mittelalter zurückreichende Geschichte der jüdischen Gemeinde; in Murcia lebt eine alteingesessene Roma-Minderheit. Eine Frage, die in dem Projekt verfolgt werden soll, ist, wie sich das Verhältnis von historisch sedimentierten und neueren Deutungsmuster von Diversität gestaltet und welche Wirkung sie jeweils entfalten.

Die beiden Städte unterscheiden sich allerdings in einer wesentlichen Hinsicht. Das Rhein-Main-Gebiet ist eine der wirtschaftlich dynamischsten Regionen Europas, während Murcia im besonders krisengeschüttelten Süden Spaniens liegt. Ein wichtiges Vergleichsmerkmal wird sein, wie sich wirtschaftliche Dynamiken auf Bedrohungsdiagnosen, Grenzziehungen und Bewältigungspraktiken auswirken. Dieser Unterschied wird einerseits Effekte auf die Anwesenheit und Abwesenheit von Bedrohungsdiagnosen haben und andererseits auf die Ressourcen, die gegen Bedrohungen mobilisiert werden können.

In Frankfurt soll die Stadtteilkonstellation Goldstein-Heisenrath untersucht werden. Goldstein ist eine in den 1930er Jahren stadtplanerisch angelegte Siedlung, die zunächst aus Doppelhäusern mit großen Gärten bestand, und die heute ca. 4500 Einwohner hat. In den 1970er und 1980er Jahren wurden diese Häuser in Stadtrandlage besonders attraktiv für junge Mittelklasse-Familien. Mittlerweile ist bei dieser lange eingesessenen Bevölkerung ein signifikanter Alterungsprozess eingetreten. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund liegt mit 25 Prozent deutlich unter dem des Stadtgebiets (43 Prozent).

Im Nordwesten Goldsteins befindet sich der Heisenrath. Dabei handelt es sich um eine Hochhaus-Siedlung mit ca. 1400 Einwohnern, die in den 1960er Jahren im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtet wurde. Der Heisenrath grenzt direkt an die Goldsteinsiedlung, unterscheidet sich aber in ethnischen, sozioökonomischen und sozialräumlichen Merkmalen deutlich von ihr. 80 Prozent der Bewohner sind Ausländer oder haben einen Migrationshintergrund. Die größten Migrantengruppen – Marokkaner, Türken und Pakistanis – sind Muslime. Im Durchschnitt ist die Bevölkerung hier signifikant jünger als in der Goldsteinsiedlung, die Anteile der Arbeitslosen und Sozialhilfeberechtigten liegen dagegen deutlich über dem Durchschnitt.

Der Heisenrath galt vor allem ab Mitte der 1990er Jahren als Problemviertel. In den letzten Jahren hat sich die Situation nicht zuletzt aufgrund wohlfahrtsstaatlicher Interventionen beruhigt. Allerdings bleibt das Verhältnis zwischen den Bewohnern der beiden Siedlungen spannungsreich. Dabei gilt es zu betonen, dass der Heisenrath ein auf viele Weisen mit Goldstein verbundener Stadtteil ist. Die Bewohner der beiden Siedlungen teilen Ressourcen wie Schulen, öffentliche Plätze und Sportvereine, sind aber gleichzeitig voneinander durch eine für alle offensichtliche Mischung aus ethnischer Differenz, Klassenzuschreibung und Bebauung der Stadtteile separiert.

In Murcia bilden die Stadtteile La Paz und Vistabella eine vergleichbare Konstellation. Ähnlich wie im Frankfurter Fall gehen beide Siedlungen auf stadtplanerische Eingriffe zurück und unterscheiden sich deutlich in ihrer Bebauung und Sozialstruktur. Damals am Stadtrand von Murcia, wurde Vistabella in den 1950er Jahren vom Franco-Regime als Gartenstadt für Staatsbedienstete angelegt. Der ca. 4000 Bewohner große, überwiegend aus viergeschossigen Mietshäusern bestehende Stadtteil ist mit Grünanlagen, Innenhöfen und kleinen öffentlichen Plätzen durchzogen. Er hat durch diese Bebauung einen hohen Freizeitwert, was junge Familien, Migranten und Akademiker angezogen hat. Das Viertel ist seit den frühen 2000er Jahren heterogener geworden und hat neue Personengruppen absorbiert, wird aber immer noch von ethnischen Spaniern der Mittelklasse dominiert. Der Ausländeranteil beträgt 15 Prozent, größtenteils spanischsprachige Lateinamerikaner.

La Paz wurde in den 1960er Jahren im Rahmen der städtischen Expansionspolitik und des sozialen Wohnungsbaus errichtet. In den mittlerweile teilweise heruntergekommenen drei- bis zehngeschossigen Flachdachhäusern des Viertels wohnen ca. 4900 Menschen. Der Ruf des Viertels wird vom hohen Anteil spanischer Roma (ca. 15 Prozent) geprägt. Die Gruppengrenze zwischen ethnischen Spaniern und Roma, die mit Bedrohungsdiagnosen wie Drogenkriminalität, Armut und Gewalt unterlegt wird, hat sich über einen langen Zeitraum verfestigt. Seit den späten 1990er Jahren hat sich allerdings auch hier die Zusammensetzung der Bevölkerung signifikant verändert. Zusätzlich zur eingesessenen Roma-Minderheit waren im Jahr 2013 25 Prozent der Bewohner Ausländer. Die größte Gruppe der Migranten stammt aus nicht-spanischsprachigen, überwiegend muslimischen Ländern Afrikas. Die ethnische Diversifizierung des Stadtteils seit den 1990er Jahren hat das prekäre sozioökonomische Profil und den Ruf als „Zigeunerviertel“ nicht verändert, führte aber zu zusätzlichen Bedrohungsdiagnosen wie „Islam“ und „Illegalität“. 31 Prozent der Bevölkerung in La Paz werden von der Caritas unterstützt, die in Vistabella bis in die frühen 2000er Jahre aufgrund des geringen Bedarfs an wohlfahrtstaatlicher Unterstützung gar keine Niederlassung hatte.

Projektbezogene Vorträge und Publikationen

Folgen

Tagungen, Workshops, Konferenzen

Folgen

Nieswand, Boris

  • Under Review. “Unaccompanied Minor Refugees between Deterrence, Humanitarianism and Integrationism.” Focaal
  • Under Review. "Exploring the Nexus between Transnationalism and Border Studies." Identities.
  • Im Erscheinen. Problematisierung und Emergenz. Die Regimeperspektive in der Migrationsforschung. In: A. Pott und F. Wolff (Hg.) Migrationsregime. Wiesbaden: Springer VS.
  • Im Erscheinen. Migration, Transgression Capital and Global Inequality in Ghana (Übersetzung ins Italienische ist in Arbeit). In: S. Marabello und U. Pellecchia (Hg.) Transnational Authorities. Forms and Practices of Power in Contemporary Ghanaian Migrations. Roma: Cisu.
  • Im Erscheinen. Kultur als Scheinriese. In: Sammelband der Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.) Zurück in die Zukunft? Kultureuropa auf der Spur“. Berlin
  • Im Erscheinen. Die Transitzone und die Fiktion der Nichteinreise. Das Flughafenasylverfahren im Zwielicht von Normalität und Ausnahme. In: J. Oltmer (Hg.) Migrationsregime vor Ort. Wiesbaden: Springer VS.
  • 2017 Il Capitale Di Infrazione E Diseguaglianza Globale Nel Ghana Meridionale. In: Selenia Marabello und Umberto Pellecchia (Hg.), Capitali Migratori E Forme Del Potere Sei Studi Sulle Migrazioni Ghanesi Contemporanee. Roma: Cisu: 21-45.
  • 2017 Towards a Theorisation of Diversity. Configurations of Person-related Differences in the Context of Youth Welfare Practices. ". Journal of Ethnic and Migration Studies 43, 10: S. 1714-30. doi: 10.1080/1369183X.2017.1293593.
  • 2017 (mit J. Eidson, D. Feyissa, V. Fuest, M. Höhne, G. Schlee und O. Zenker). From Identification to Framing and Alignment. A New Approach to the Comparative Analysis of Collective Identities. Current Anthropology 58, 3: S.340–359, doi:10.1086/691970.
  • 2017 (mit Ewald Frie). „Bedrohte Ordnungen“ als Thema der Kulturwissenschaften. 12 Thesen & Antwort auf Kommentare von Andreas Ziemann, Martin Schmid Bernhard Linke und Ute Daniels, Journal of Modern European History 15, 1, S. 5-15, S. 31-35.
  • 2016a. Integration. Auf der Suche nach Teilen und ihren Ganzheiten. In: S. Kostner (Hg.) Migration und Integration: Akzeptanz und Widerstand im transnationalen Nationalstaat. Berlin: Lit.
  • 2016b Die Dezentrierung der Migrationsforschung. In: K. Kazzazi, A. Treiber, T. Wätzold, (Hg.) Migration – Religion – Identität. Aspekte transkultureller Prozesse, Wiesbaden: Springer VS, S.283-297.
  • 2015. 이민 연구의 새로운 관점 - 국민국가에서 세계사회로 (Migration Research Between Nation-State and World Society).역사비평 (Critical Review of History), 110, S. 286-320.

Martinez, Damian

  • 2018 (in press) Estudio introductorio: “Gerd Baumann, La Cultura en Disputa. Discursos sobre la identidad en el Londres multiétnico”, Lathe Biosas, Barcelona.
  • 2016 “EASA & Euro-anthropology: An ethnographic approach”, in: Francisco Martínez (ed.) Rethinking Euro-anthropology: part three. Early career scholars forum, Social Anthropology/Antropologie Sociale, 24/3, 368-369.
  • 2016 Aprender etnografía investigando el franquismo. El caso del «Seminario de Antropología Social. Teoría y Práctica de la Investigación»”, Revista Murciana de Antropología, 23, pp. 225-240.
  • 2016 “Book Review: A. Kuper. Anthropology and Anthropologists. The British School in the Twentieth Century (4th ed.). London: Routledge, 2015. xvi + 152 pp.”, Journal of the History of the Behavioural Sciences, Vol. 52(1), 78–79, Winter 2016. Online: onlinelibrary.wiley.com/enhanced/doi/10.1002/jhbs.21763/