Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Das Energielabor Tübingen

Wie viel Energiebedarf ist eigentlich genug – und wer entscheidet das?

Das transdisziplinäre Projekt

Die Leitfrage des Vorhabens – wie die Energiewende vor Ort in Tübingen realisiert werden sollte – wurde in einem transdisziplinären „Reallabor“ bearbeitet. Das Besondere dabei: Anders als in üblichen wissenschaftlichen Laboren beteiligen sich nicht nur Wissenschaftler*innen an der Forschung und es geht um eine Forschung mitten in der Gesellschaft. Ethisch relevante Erkenntnisse werden in Kooperation zwischen Wissenschaftler*innen und gesellschaftlichen Stakeholdern gewonnen. Am Energielabor waren von Beginn an die Stadtwerke Tübingen, das Umweltzentrum, der BUND und die Stadt Tübingen als Forschungspartner beteiligt. Und mehr noch sollte die Energiewende vor Ort in Tübingen vor allem gemeinsam mit denen erforscht werden, die damit am meisten zu tun haben: den Tübinger Bürger*innen. Wissenschaftliche Partner waren unter Federführung des Geographischen Instituts der Universität Tübingen (Prof. Volker Hochschild, Jeannine Tischler, Geraldine Quénéhervé) neben dem IZEW noch das Institut für Energiewirtschaft und rationelle Energieanwednung (IER) in Stuttgart (Dr. Ludger Eltrop und Christoph Bahret).

Gemeinsam haben die Projektbeteiligten Potentiale für die Erzeugung erneuerbarer Energien in einem Tübinger Stadtquartier untersucht, ihre Kosten abgeschätzt und die Vor- und Nachteile verschiedener Optionen kritisch reflektiert, die Energieversorgung eines Stadtquartiers in Einklang mit den ethisch begründeten Prinzipien Nachhaltiger Entwicklung zu bringen.

Aktivitäten des IZEW im Projekt

Innerhalb des Tübinger Reallabors haben Marius Albiez, Andri König und Thomas Potthast

  • untersucht, welche ethischen Annahmen den bislang vorgeschlagenen Indikatoren für Nachhaltige Energieversorgung unterliegen und
  • diese mit ethischen Grundprinzipien Nachhaltiger Entwicklung verglichen;
  • einen Bürger*innen-Dialog zur Reflexion ethischer Konflikte bei Installation eines Quartierspeichers initiiert;
  • ein Bürger*innen-Experiment durchgeführt, um zu untersuchen, welche Relevanz die Haltung der Genügsamkeit für ein gutes Leben hat.
  • transdisziplinäre Forschung in die Lehre an der Universität Tübingen integriert (Albiez, König, Potthast 2018).

Ergebnisse des IZEW

Nachhaltige Energiewende

Die Auswertungen der bislang vorgeschlagenen Indikatoren, um die Nachhaltigkeit der Energieversorgung zu beurteilen, zeigten, dass diese Indikatorensets im Wesentlichen zwei Strategien Nachhaltiger Entwicklung abbilden: Energieeffizienz und Energiekonsistenz. Die Strategie der Suffizienz wird hingegen bislang nicht repräsentiert. Die IZEW-Wissenschaftler*innen argumentieren, dass die Berücksichtigung der Suffizienz-Strategie für die Beurteilung der Nachhaltigkeit eines Energiesystems unabdingbar ist: Ethische Konflikte bei der Transformation des Energiesystems hängen entscheidend von dem Niveau an Energienachfrage ab, die das transformierte System befriedigen soll, also von der Einstellung zur Suffizienz. Um einen vernünftigen Umgang mit den ethischen Konflikten, die sich bei der Transformation des Energiesystems ergeben, zu finden, ist eine Reflexion über die Suffizienz der Energieversorgung unabdingbar (vgl. Potthast 2016).
Ausführliche Ergebnisse finden sich in Albiez et al. 2019.

Suffizienz und gutes Leben

In partizipativen Maßnahmen sind Albiez, König und Potthast der Frage in Tübingen nachgegangen, wie viel Energiekonsum für ein gutes Leben eigentlich nötig bzw. ausreichend ist. Im Rahmen des „Wendepunkt“-Vorhabens gab es sogenannte Energiewendehaushalte, also Tübinger Bürger*innen, die in bestimmten Bereichen für mehrere Wochen Energiesuffizienz einübten. Diese Haushalte wurden vor und nach der Testphase nach ihren allgemeinen Anforderungen für ein gutes Leben gefragt. Neben zu erwartenden Antworten wie dem Verweis auf ein gesichertes Leben, Wohnraum und familiären und freundschaftlichen Beziehungen wurde dabei auch immer wieder auf die Bedeutung des „Weniger ist mehr“, ausdrücklich als positiver Beitrag zum guten Leben, verwiesen.

Ethische Reflexion in transdisziplinären Projekten

Das Reallabor lieferte auch Erkenntnisse, dass ein transdisziplinäres Forschungsdesign, insbesondere wenn es um kritische ethische Reflexion geht, weiterzuentwickeln ist. Die im Rahmen des Vorhabens durchgeführte Bürger*innen-Reflexionen stießen auf geringe Resonanz, obwohl das Thema Suffizienz in aller Munde ist und explizit eine ethische Dimension hat Hier sehen IZEW-Wissenschaftler*innen Forschungspotentiale, um kritische ethische Reflexion in umsetzungsorientierte Vorhaben besser zu integrieren.

 

Literatur:

Albiez, Marius Albiez; Matthias Bornemann; Andri König; Eugen Pissarskoi; Thomas Potthast: Nachhaltige Energiewende: Niveau des Energieverbrauchs als wesentliches Meta-Kriterium: Einsichten aus der Erstellung von Indikatoren für die Stadt Tübingen. Discussion Paper. IZEW, Tübingen 2019.

Albiez, Marius; Andri König; Thomas Potthast: Transdisziplinarität und Bildung für Nachhaltige Entwicklung in der Lehre an der Universität Tübingen: Konzeptionelle Fragen mit Bezug auf Lehraktivitäten des „Energielabors Tübingen“. In: Walter Leal Filho (Hg.): Nachhaltigkeit in der Lehre. Eine Herausforderung für Hochschulen. (Theorie und Praxis der Nachhaltigkeit) Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg 2018, S. 189–206. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-56386-1_12

Potthast, Thomas (2016): Atomausstieg und Energiewende – ethische Perspektiven. In: Ludwigs, Markus (Hrsg.): Der Atomausstieg und seine Folgen. Schriften zum Deutschen und Europäischen Infrastrukturrecht, Duncker & Humblot, Berlin 2016: 67-82.