Über die letzten zwei bis drei Jahrzehnte hat sich die Produktion von K. Saariaho, S. Sciarrino und O. Neuwirth als repräsentativ für die gegenwärtigen Entwicklungen im europäischen Musiktheater erwiesen. Die Infragestellung von Gattungstypologien und medialen Hierarchien, die Pluralisierung von Darbietungsformen und die Erweiterung der inter- und transmedialen Dimension stellen zentrale Aspekte ihres Musiktheaters dar. Sie gehen mit einer Aussetzung von diskursiven Dichotomien, wie der zwischen Fortschritt und Rückschritt, und mit der Verlagerung des produktionsästhetischen Schwerpunkts von der Ebene der Struktur zu jener von Wahrnehmung und Körperlichkeit einher. Ein zentrales Element bei allen der drei genannten Komponisten ist dabei das Traumphänomen, das sowohl ihre poetologischen Positionen als auch die dramaturgische, mediale und erfahrungspoetologische Faktur ihrer Werke von Grund auf strukturiert. Bis dato fehlt jedoch eine Untersuchung, die die Zentralität des Traums für die musik¬theatralische Produktion der drei genannten Komponisten reflektiert und sie sowohl historisch als auch im Hinblick auf das gegenwärtige Musiktheater kontextualisiert.
In der Andersartigkeit einer alogischen Erfahrung, die sich im Inneren des Subjekts entfaltet, fordert das Traumerleben tradierte Identitäts- und Rationalitätskonzepte heraus; zugleich wertet es die sensorische und emotionale Wahrnehmungsdimension auf. Quer durch alle Künste werden daher anhand des Traums anthropologische Modelle und Subjektivitätskonzepte neu ausgehandelt sowie tradierte Gattungstypologien und mediale Grenzen infrage gestellt. Individuelle wie kollektive sensorische Erfahrungen, die sich dem Logos entziehen, werden ebenfalls mittels des Traums hinterfragt. Damit stellen ästhetische Traumdarstellungen bereits per se einen diskursiven, medialen und erfahrungspoetologischen Knotenpunkt dar. Im Rahmen des Projekts fungiert der Traum als Reagenz: Er macht die Interaktion der drei Ebenen im Musiktheater der drei genannten Komponisten sichtbar und erlaubt, sie sowohl auf einer synchronen als auch auf einer diachronen Zeitachse zu hinterfragen.
In diesem Sinne stellen ein einleitender Teil des Vorhabens, der nach der Präsenz und Funktion des Traums im europäischen Musiktheater seit Wagner fragt, und eine abschließende Zusammenführung der Ergebnisse im Hinblick auf die zeitgenössische Musiktheaterproduktion in Europa einen integrierenden Bestandteil des Projekts dar. Nicht nur wird dadurch eine auffällige Forschungslücke beantwortet, sondern erlauben beide Teile, die komplexen musikhistorischen und kulturellen Rückbezüge in den Werken der drei zu untersuchenden Komponisten auszuloten und deren Produktion angemessen zu kontextualisieren. Mithilfe eines interdisziplinären Austausches zwischen der Musikwissenschaft und der kultur- und mediengeschichtlich orientierten Traumforschung leistet damit das Vorhaben einen Beitrag, der zusammen mit der Eröffnung neuer heuristischen Zugänge zu den Werken von Saariaho, Sciarrino und Neuwirth und allgemein zu der musiktheatralischen Produktion der Gegenwart auch auf aktuelle Debatten beider Forschungsrichtungen eingeht und diese inhaltlich wie methodologisch innoviert.