Partnerschaftsgewalt während der COVID-19-Pandemie - Auswirkungen und Herausforderungen für das Hilfesystem
Bericht zum Vortrag von Natalie Gehringer am 29.4.2024
Deutlich mehr als 50 Personen fanden sich am Abend des 29.4.2024 trotz des schönen Wetters im Hörsaal 9 der Neuen Aula ein, um dem ersten Vortrag im Rahmen des Kriminologisch-Kriminalpolitischen Arbeitskreises (KrimAK) im diesjährigen Sommersemester zuzuhören. Natalie Gehringer vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg sprach über das Thema „Partnerschaftsgewalt während der COVID-19-Pandemie - Auswirkungen und Herausforderungen für das Hilfesystem“.
Gehringer zählte zu Beginn verschiedene Faktoren auf, die das Risiko für Partnerschaftsgewalt während der Lockdowns verstärkt hätten. Dabei nannte sie zum Beispiel eine höhere finanzielle Unsicherheit, die Verstärkung traditioneller Geschlechterrollen, die vermehrte Übernahme von Care-Arbeit durch Frauen sowie das „Social Distancing“.
Anschließend stellte die Referentin das Projekt „COVID-19-KRIM“ vor, an dem sie beteiligt ist und auf dem ihr Vortrag basierte. Im Rahmen des Projektes wurden zwar auch quantitative Daten aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) analysiert. Der Fokus lag allerdings auf den qualitativen Daten. Hierfür wurden 21 Interviews mit verschiedenen Akteuren von Beratungsstellen für sexualisierte Gewalt, Frauenhäusern, dem Jugendamt und der Polizei geführt.
In einem nächsten Schritt stellte Gehringer die Ergebnisse des Projekts vor.
Zunächst ging sie auf das Anfrageverhalten bei den verschiedenen Hilfeeinrichtungen während der Pandemie ein. Mit Beginn des ersten Lockdowns sei eine Art „Schockstarre“ eingetreten; die Telefone seien stillgestanden. Mit den ersten Lockerungen seien dann große Zahlen an Anfragen wie eine „Schwappwelle“ bei den Hilfeeinrichtungen eingegangen.
Anschließend analysierte die Referentin die Zugangswege und die Erreichbarkeit der Einrichtungen. Grundsätzlich seien eine mangelnde Sensibilisierung und eine fehlende Aufklärung noch immer eine große Hürde. Oft fehle schon das Wissen darüber, wo man sich Hilfe holen kann. Darüber hinaus bemängelte Gehringer die unzureichende Versorgung im ländlichen Raum.
Umso wichtiger sei die Kooperation mit und Sensibilisierung von anderen Akteuren wie medizinischem Fachpersonal oder der Polizei, die Betroffene bei entsprechenden Anzeichen an Hilfeeinrichtungen weiterleiten könnten. In der Sondersituation der Pandemie sei vor allem die Isolation der Betroffenen zu einem großen Problem geworden. In den Interviews sei von einer „Blackbox“ gesprochen worden, da durch den Lockdown Anknüpfungs- und Kontrollpunkte verloren gegangen seien. Gerade Schulen und Kitas seien eine wichtige Brücke beim Erkennen häuslicher Gewalt, nicht nur bei Gewalt gegen die Kinder selbst, sondern auch unter betroffenen Eltern.
Auch hinsichtlich der unmittelbaren Arbeitssituation in den Hilfeeinrichtungen berichtete Gehringer von neuen Herausforderungen durch die Pandemie. Durch die Abstandsregelung sei eine Raum- und Platznot entstanden und die (mehrheitlich weiblichen) Mitarbeiterinnen seien einer Doppelbelastung aus Care- und Lohnarbeit ausgesetzt gewesen. Durch die Arbeit im Homeoffice sei es zudem einigen Beraterinnen schwergefallen, Grenzen zwischen ihrer Arbeit und privaten Angelegenheiten zu ziehen. Gleichzeitig sei der Umfang der Beratungsarbeit angestiegen, da viele Klientinnen mit Multiproblemlagen, wie z.B. zusätzlichen Suchtproblematiken oder Depressionen, in die Beratung gekommen seien.
Zu Beginn der Pandemie hätten fast alle Beratungen per Telefon stattgefunden, erläuterte Gehringer. Später seien Video-Gespräche hinzugekommen. Diese Art der Kommunikation habe vor allem bei stark traumatisierten Betroffenen zu Problemen geführt. Auch seien die Klientinnen, die an den Sitzungen meist von zu Hause aus teilgenommen hätten, regelmäßig von ihren Familienmitgliedern unterbrochen worden. Allerdings hätten die neuen Beratungsmethoden auch Vorteile mit sich gebracht. So hätten sie zu einem Zugewinn an Flexibilität und Zeitersparnis geführt. Auch die Hemmschwelle, sich zu melden, sei geringer.
Mit dem weiteren Verlauf der Pandemie sei es schließlich auch wieder zu Beratungen in Präsenz gekommen. Jedoch hätten Schutzmaßnahmen wie Masken, Abstand oder Plexiglasscheiben weiterhin für Distanz gesorgt. Teils hätten Beratungen auch im Freien stattgefunden; allerdings habe sich hier das Problem gestellt, dass Fremde dadurch die Gespräche mithören konnten.
Als Fazit fasste Gehringer zusammen, dass der schon im Nicht-Krisen-Modus hürdenreiche Weg ins Hilfesystem durch die Pandemie weiter erschwert worden sei. Die Referentin betonte, dass Zugangswege erleichtert und gesichert und das Wissen um Beratungsangebote erweitert werden müsse. Gerade im ländlichen Raum müsse der Weg ins Hilfesystem geebnet werden.
Zwar seien durch die Pandemie auch positive Entwicklungen angestoßen worden, wie die verschiedenen neuen Beratungsformen; insgesamt blieben jedoch viele Herausforderungen bestehen. Erforderlich seien eine stabile Finanzierung sowie eine verstärkte Sensibilisierung und der Aufbau verbindlicher Kooperationsnetzwerke.
In der anschließenden Fragerunde führte Gehringer auf eine der zahlreichen Fragen des Publikums aus, dass nach den Berichten der Einrichtungen vor allem Familien in prekären Lebenssituationen einer besonderen Drucksituation ausgesetzt gewesen seien. So sei es bei einem Leben auf engem Raum schwer gewesen, sich in Konfliktsituationen aus dem Weg zu gehen.
Auch seien Coping-Strategien wie zum Beispiel den Raum zu verlassen oder eine Nacht auswärts zu verbringen, während der Pandemie nur eingeschränkt möglich gewesen. Insgesamt sei die Täterarbeit bisher viel zu wenig ausgebaut. Fraglich sei jedoch, wie groß die Bereitschaft der Täter sei, sich von sich aus bei den Hilfeeinrichtungen zu melden. Der Impuls dazu käme teilweise auch von den Partnerinnen. Als Möglichkeit der Abhilfe nannte die Referentin den Kontaktaufbau durch die Polizei, wenn diese bei einem Einsatz von häuslicher Gewalt erfahre.