Institut für Kriminologie

Alternativen im Justizsystem – Alternatives Justizsystem?

Tobias Merckle und ein junger Mann berichten im Rahmen des Kriminologisch-Kriminalpolitischen Arbeitskreises (KrimAK) aus dem Seehaus Leonberg

Am 4. Juli 2022 gewährten Tobias Merckle und ein Bewohner der Einrichtung, Daniel, im Rahmen des Kriminologisch-Kriminalpolitischen Arbeitskreises (KrimAK) interessante Einblicke in die Praxis und den Alltag im Seehaus Leonberg.
Der Devianz- und Sozialpädagoge Tobias Merckle ist seit 2001 geschäftsführender Vorstand des Seehauses bei Leonberg. Er war bereits im Jahr 1990 bei einem Gefängnisbesuch in Atlanta auf die Notwendigkeit von Alternativen zu herkömmlichen (Jugend-)Strafanstalten aufmerksam geworden. Als problematisch empfand es Merckle insbesondere, dass kriminelle Verhaltensmuster von Strafgefangenen durch den Gefängnisaufenthalt häufig intensiviert würden. Merckles Korreferent Daniel wohnt seit acht Monaten im Seehaus.

Nach einer kurzen Begrüßung durch Jörg Kinzig stellten beide rund 150 Zuhörerinnen und Zuhörern zunächst das Grundkonzept des Seehauses vor. Zielgruppe der Einrichtung sind junge Männer, die eine Jugendstrafe verbüßen und bis zur voraussichtlichen vorzeitigen Entlassung nicht älter als 24 Jahre sind. Schwerpunktmäßig handele es sich um 16- bis 23-jährige wegen Körperverletzungs- und Gewaltdelikten Verurteilte, die mindestens ein Jahr im Seehaus verbringen. Ausgeschlossen seien Sexualstraftäter. Grundpfeiler des Seehauses sei laut Merckle eine positive Wohnkultur, in der den Bewohnern mit Vertrauen gegenübergetreten werde. Weder Mauern noch Gitter umgeben das Gelände. Bis zu sieben Jugendliche wohnen mit Hauseltern und deren Kindern zusammen und erfahren so oft zum ersten Mal, so Merckle, ein funktionierendes Familienleben. Daniel schilderte in diesem Zusammenhang, dass insbesondere das Zusammenleben mit Kindern in ihm positive Veränderungen bewirke. Denn sie seien unvoreingenommen und reduzierten ihn nicht, wie er es zuvor in der JVA Adelsheim teilweise erlebt habe, von vornherein auf die von ihm begangene Straftat.

Ferner berichteten die Redner, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in einen konsequent durchgetakteten Tagesablauf eingebunden seien: Der Tag beginne teilweise bereits um 5.30 Uhr mit Frühsport, einem gemeinsamen Frühstück und Diensten im Haushalt. Die Arbeit schließe sich an. Danach stehe die „Hilfreiche-Hinweisrunde“ auf dem Programm, in der – unter der Leitung eines Bewohners – täglich Lob und Kritik ausgesprochen werde, um eine „positive peer culture“ herzustellen und Kritikfähigkeit zu üben. Jeder Bewohner erhalte zudem anhand eines Notensystems täglich eine Rückmeldung über sein Verhalten bei der Arbeit, in der Wohngemeinschaft und in der Schule. Wenn über einen längeren Zeitraum konstant gute Noten erreicht würden, bestehe die Möglichkeit, in einem Stufensystem aufzusteigen und sich dadurch Freiheiten in Form von Besuchs-, Handy- oder Ausgangszeit zu erarbeiten.

Zudem seien Berufsvorbereitung, Sport, gemeinnützige Arbeit, Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Straftaten für die Opfer, Wiedergutmachung, soziales Training und die Vermittlung christlicher Werte fester Bestandteil des Konzepts. Den Jugendlichen werde damit Verantwortungsbewusstsein gelehrt und bewirkt, dass sie sich als gesetzestreue Bürger in die Gesellschaft einbringen. Anhand vielseitiger sportlicher und kreativer Freizeitaktivitäten werde den Bewohnern aufgezeigt, welche Alternativen es zu kriminellem Verhalten gibt.

Nach einer ersten Fragerunde zum Alltag des Seehauses ging Tobias Merckle zudem ausführlich auf das Konzept der „Restorative Justice“ ein. Er stellte heraus, dass Wiedergutmachung, Opferempathie sowie Opferdirekthilfe im Mittelpunkt stehen sollten.
Merckle zeigte ferner auf, dass ein solcher Ansatz im Rahmen des „Prison Fellowship Programms“ in Kolumbien heute schon Realität sei, wo selbst in schlimmsten Fällen eine Versöhnung mithilfe eines intensiven Täter-Opfer-Ausgleichs und durch den Fokus auf Opferempathie erreicht werden könne.

Nach einer lebhaften zweiten Fragerunde endete die Veranstaltung mit einer eindrücklichen Wortmeldung eines ehemaligen ehrenamtlichen Mitarbeiters des Seehauses. Er betonte, wie wichtig die Institution Seehaus sei und welch hohen, inspirierenden Stellenwert sie nicht nur im Werdegang der Bewohner, sondern auch bei ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben könne.