Institut für Kriminologie

Mehrfachtäterforschung

Beim Mehrfachtäterprojekt handelt es sich um eine vergleichende Auswertung von Langzeit- und Mehrfachtäterstudien mit Blick auf biographische Kriterien bzw. Entwicklungen sowie Sanktionsfolgen. Abgesehen von langfristigen allgemeinen Vorarbeiten läuft dieses Projekt seit 1989 und wird seit Februar 1991 von der DFG gefördert. Im Zentrum dieser Sekundäranalyse wird mit Hilfe der Originaldaten der wichtigsten jüngeren kriminologischen Kohortenstudien die Gültigkeit und Verläßlichkeit - insbesondere auch für europäische Verhältnisse - der in diesen Verlaufsstudien verwendeten Kriterien für die Herausarbeitung der Entwicklungsdynamik sogenannter Mehrfachtäter, Intensivtäter oder auch "chronischer Täter" überprüft. Aus der in zahlreichen Untersuchungen tendenziell gleichartigen Erkenntnis, daß statistisch betrachtet eine kleine Gruppe von rund 5% eines Geburtsjahrganges im Verlauf der ersten Lebensjahrzehnte für rund 50% der registrierten Gesamtkriminalität der Alterskohorte verantwortlich ist, wurden in der Vergangenheit z.T. weitreichende und keineswegs nur wissenschaftliche Schlußfolgerungen gezogen. Obwohl diese Forschungen ursprünglich als reine Grundlagenforschungen zum Problem der persönlichen und umweltbezogenen Bedingungen wiederholter Kriminalität angelegt waren, fielen die Ergebnisse in Zeiten eines gesellschaftspolitischen und kriminalpolitischen Klimawandels vor allem in den USA in Politik und Praxis auf fruchtbaren Boden und führten zu nachhaltigen Konsequenzen in der US-amerikanischen Strafrechtspolitik.

Das unmittelbare Hauptziel diese Projektes besteht in der kritischen Überprüfung der Brauchbarkeit des Mehrfachtäterbegriffs und einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Theorien zur Frühkriminalität einerseits, den Theorien der Rückfallkriminalität andererseits. In sanktionstheoretischer Hinsicht soll die Chance des speziellen Datenzugangs genutzt werden, um anhand von Verlaufsdaten, die im Gegensatz zu Querschnittsdaten eine wenigstens im ersten Ansatz hinlänglich brauchbare kausale Fragestellung erlauben, die relative Verwendbarkeit klassischer Präventionskonzepte gegenüber der Erklärungskraft von sozialpsychologischen Etikettierungstheorien zu testen. Immerhin stehen bei einzelnen der Langzeitforschungen Beobachtungszeiträume von bis zu 30 Jahren zur Verfügung. Auch wurden vergleichbare Daten zu verschiedenen Interventionszeitpunkten gesammelt, so daß es möglich sein wird, komplexe Analysen bzw. Berechnungen durchzuführen.

Bisher konnten circa 50 Langzeitstudien in Form von Datenbändern und Dokumentation besorgt werden. Trotz international verstreuter Quellen und gelegentlicher Hürden durch den Datenschutz war die Beschaffung der Daten vergleichsweise unproblematisch. Demgegenüber erfordert die Aufbereitung der Datensätze erheblich mehr Zeitaufwand als vorgesehen. Neben zu erwartenden allgemeinen Zugangsproblemen, Codierungsfehlern usw. standen teilweise nur Rohdatensätze zur Verfügung, für die erst mit Hilfe der Dokumentationsunterlagen entsprechende Datendefinitionsprogramme erstellt werden mußten, wobei sich in einigen Fällen die Vermutung aufdrängte, die schlechte Qualität könnte beabsichtigt gewesen sein, um externen Wissenschaftlern den Zugang zu erschweren. Für die ersten Analysen von Hellfelddaten wurden die Philadelphia-Kohortenstudien von Wolfgang und Kollegen verwandt, um die Kriterien der Mehrfachtäter zu überprüfen, da die Ergebnisse dieser Kohortenstudien wohl den größten Einfluß auf "Criminal Career und Career Criminal" Forschung nach 1972 wie auch auf die Strafrechtspolitik hatten. Die erneuten Analysen unter Verwendung von "europäischen" Kategorien ergaben, daß die in den USA verbreitet verwandten Kategorien Schwächen aufweisen und daß sich die daraus gezogenen strafrechtspolitischen Schlußfolgerungen als anfechtbar herausstellen. Weitere vorläufige Ergebnisse zeigen, daß die Intensivtäter entgegen der ursprünglichen Annahmen nicht so "gefährlich" sind, daß nicht die ethnische Zugehörigkeit an sich, sondern die damit korrespondierende soziostrukturelle Lebenslage bzw. die damit verbundenen selektiven Zugangschancen zu gesellschaftlichen Ressourcen als maßgeblich für die wiederholte und zunehmende Polizeiauffälligkeit anzusehen sind und daß Nichtintervention oder geringfügige Interventionen härteren Eingreifungsmaßnahmen vorzuziehen sind, da letztere zu längeren Karrieren führen. In einem weiteren Schritt des Forschungsprojekts sollen die Dunkelfelddaten und Kriterien der Mehrfachtäterschaft des National Youth Survey von Elliott und Kollegen aufgrund der verfügbaren sechs Wellen ebenfalls auf ihre Brauchbarkeit untersucht werden.

Das Projekt kooperiert bei der Durchführung mit einigen Institutionen im Ausland, und zwar mit: University of Pennsylvania, University of California at Riverside, University of Washington, University of Colorado, University of Pittsburgh, University of New York at Albany, University of Wisconsin, Temple University, Yale University, University of Cambridge und der University of Stockholm.



Veröffentlichungen

1991

Kerner, H.-J.: Multiple Offending in Germany. Lessons on the Influence of Police Recording Rules upon Official Crime Rates of Different Age Groups. In: Sessar, K., Kerner, H.-J. (Hrsg.): Developments in Crime and Crime Control Research. German Studies on Victims, Offenders, and the Public. New York u.a.: Springer Verlag, S. 170-187.

Kerner, H.-J., Weitekamp, E., Winzen, H.-D. (unter Mitarbeit von M. Becker, A. Erz, A. Heide, I. Krülle, M. Schneider, S. Zeis): Bibliographie über Langzeit- und Kohortenforschungen. Tübingen: Institut für Kriminologie, 284 S.

Kerner, H.-J., Schindler, V., Weitekamp, E. (unter Mitarbeit von K. Deckert): Erster Arbeitsbericht zum Mehrfachtäterprojekt. Tübingen: Institut für Kriminologie, 154 S.

Kerner, H.-J., Schindler, V., Weitekamp, E. (unter Mitarbeit von K. Deckert): Tabellenband zum Mehrfachtäterprojekt. Tübingen: Institut für Kriminologie, 131 S.

1992

Kerner, H.-J.: Alkohol und Kriminalität. Zur Bedeutung von Alkoholkonsum bei einzelnen Straftaten und bei der Ausprägung Krimineller Karrieren. In: Frank, C., Harrer, G. (Hrsg.): Forensia-Jahrbuch 3. Heidelberg: S. 107-137.

1993

Kerner, H.-J.: Jugendkriminalität zwischen Massenerscheinung und Krimineller Karriere. In: Nickolai, W., Reindl, R. (Hrsg.): Sozialarbeit und Kriminalpolitik. Freiburg: Lambertus, S. 28-62.

1994

Mischkowitz, R.: Desistance from a Delinquent Way of Life. In: Weitekamp, E., Kerner, H.-J. (Hrsg.): Cross-National Longitudinal Research on Human Development and Criminal Behavior. Dordrecht u.a.: Kluwer Academic Publishers, S. 303-327.

Weitekamp, E., Kerner, H.-J. (Hrsg.): Cross-National Longitudinal Research on Human Development and Criminal Behavior. Dordrecht u.a.: Kluwer Academic Publishers, 461 S.

Weitekamp, E., Kerner, H.-J.: Epilogue: Workshop and Plenary Discussions, and Future Directions. In: Weitekamp E., Kerner, H.-J. (Eds.): Cross-National Longitudinal Research on Human Development and Criminal Behavior. Dordrecht u.a.: Kluwer Academic Publishers, S. 439-449.

1995

Weitekamp, E., Kerner, H.-J., Schindler, V., Schubert, A.: On the "Dangerousness" of Chronic/Habitual Offenders: A Re-Analysis of the 1945 Philadelphia Birth Cohort Data. Studies on Crime and Crime Prevention 4, No. 2, S. 159-175.

Weitekamp, E., Kerner, H.-J., Schindler, V., Schubert, A.: On the "Dangerousness" of Chronic/Habitual Offenders: A Reanalysis of the 1945 Philadelphia Birth Cohort Data. Journal of Studies on Crime and Crime Prevention: Annual Review, Vol. 4, No. 2, S. 159-175.

1996

Weitekamp, E.: Die Entwicklung von Langzeit- und Kohortenstudien bis 1985. Ein Forschungsbericht. Tübingen: Institut für Kriminologie, 152 S.

Weitekamp, E., Kerner, H.-J., Schubert, A., Schindler, V.: Multiple and Habitual Offending Among Young Males: Criminology and Criminal Policy Lessons from a Reanalysis of the Philadelphia Birth Cohort Studies. International Annals of Criminology 34, No. 1-2, 9-53.

1997

Schubert, A.: Delinquente Karrieren Jugendlicher. Reanalysen der Philadelphia Cohort Studies. Aachen: Shaker.

Weitekamp, E.: Calculating the Damage to be Restored: Lessons from the National Survey of Crime Severity. In: Peters, T., Fattah, E. (Eds.): Assistance to Crime Victims in a Comparative Perspective. A Collection of Essays Dedicated to the Memory of Professor Frederik Mc Clintock (forthcoming)