Arbeitstitel: Anachronistische Altertümer – Konstruktion und Rezeption der Frühzeit im 6. und 7. Jahrhundert n. Chr.
Betreuer: Prof. Dr. Mischa Meier, Prof. Dr. Sebastian Schmidt-Hofner
„Als aber Dionysos dies vernommen hatte, nämlich dass sein Großvater alt geworden sei, da zog er zur Stadt Kadmeia mit großem Pomp und Waffen, indem er das Königreich für sich in Anspruch nahm. – Als Pentheus dies wahrnahm, war er neidisch auf ihn, hatte er doch gehört, dass er auch die Herrschaft über die Boiotier begehrte. Und verfeindet, wie sie waren, führten sie in der Stadt Krieg gegeneinander. – Die Senatoren und Bürger nun der Stadt Kadmeia nahmen es nicht an, dass dieser Dionysos die Königsherrschaft über sie ausübe; sie sagten, er habe den eigenen Vetter gemordet, ohne König zu sein.“ (Jo. Mal. 2,15,82-83.91-93.123-26, Übers. Thurn/Meier)
Die Chronographia des Johannes Malalas (ca. 491-565) mutet dem klassisch gebildeten Leser einiges zu: Dionysos und Pentheus als rivalisierende basileís, die Sphinx als Banditenführerin, Platon als Verkünder der Trinität. Wirft man einen Blick auf die Darstellung der vor-christlichen Vergangenheit in der ältesten weitgehend vollständig überlieferten Chronik griechischer Sprache, lässt sich eine Vielzahl an umgearbeiteten Mythen, aber auch biblischen und historiographischen Stoffen erkennen. Gleiches gilt für spätere Chroniken der Malalas-Tradition, wie Johannes von Antiochia, das Chronikon Paschale oder Johannes von Nikiu, wo uns kuriose Versionen des Sturzes von Romulus begegnen (vgl. Jo. Ant. fr. 59 Roberto/fr. 11 Mariev) oder mit Kambyses und Trajan zwei Herrscherfiguren, die nicht nur als zweiter resp. dritter Nebukadnezar charakterisiert werden, sondern eine wahrhaftige Wiederholung des babylonischen Exils herbeiführen (vgl. Johannes von Nikiu 51,27; Chron. Pasch. 270 Dindorf). Die irritierende Gemeinsamkeit all jener Schriften liegt darin, dass sie eine radikale Vermischung verschiedener Zeitschichten vornehmen: Spätere, bisweilen zeitgenössische Figuren, Institutionen und Praktiken werden in die fernste Vergangenheit zurückversetzt.
Ziel des Dissertationsprojektes ist es, diese kuriosen Arrangements unter Rückgriff auf den Anachronismus-Begriff zu erfassen und zu analysieren. Dabei wird unter Anachronismus mit A. Landwehr und C. Spoerhase eine Situation verstanden, „wenn sich innerhalb eines bestimmten historischen Zusammenhangs Elemente finden, die für einen zeitlich früheren oder einen zeitlich späteren geschichtlichen Kontext charakteristisch sind.“ Wie die analogen literarischen Techniken von Prolepse und Analepse funktionieren Anachronismen grundsätzlich in zwei Richtungen: Entweder im Wortsinn als „back dating“ (T. Rood, C. Atack, T. Phillips) späterer Phänomene oder aber Verweis auf die Vergangenheit in einer zeitlich späteren oder zeitgenössischen Situation.
Unter Schwerpunktsetzung auf Konstruktion und Rezeption der vor-christlichen Vergangenheit umspannt das Projekt einen Zeitrahmen von 527–690 und strebt danach, drei Fragen zu beantworten:
- Gab es Bewusstsein und Begriff für den Anachronismus im 6./7. Jahrhundert n. Chr.?
- Welche zeitgenössischen Praktiken wurden in Anachronismen reflektiert und welches fundierende/kontrapräsentische Potential hatte ihre Verarbeitung in historiographischen Texten und im juristischen Schrifttum? Für welche sozialen Gruppen waren jene Anachronismen von Interesse?
- Welchen Einfluss hatten Anachronismen auf das zeitgenössische Verständnis der vor-christlichen Vergangenheit und die historiographische Praxis? Welche Auskunft können Anachronismen über Geschichtsbild und Erkenntnistheorie im 6./7. Jahrhundert geben?
Mit seinem wissensgeschichtlichen Schwerpunkt einerseits und der Frage nach der Wahrnehmung von Zeit andererseits trägt das Projekt zu zwei aktuellen Forschungsfeldern bei. Bei der Beantwortung der Fragestellung ist in zwei Schritten vorzugehen. So sollen im ersten Teil der Arbeit die Grundsatzfrage nach der Möglichkeit von Anachronismen im 6./7. Jahrhundert sowie die anachronistische Darstellung der vor-christlichen Vergangenheit in der Malalas-Tradition untersucht werden, während der zweite Teil mit klassizistischer Zeitgeschichtsschreibung, den Novellen Justinians und den Petitionen des Dioskoros drei Anwendungsfelder des anachronistischen Wissens in den Blick nimmt und dessen Akzeptanz und Verwendung außerhalb der chronographischen Literatur zu ergründen sucht.