Institut für Politikwissenschaft

Thematische Ausrichtung

Die Gegenwartspräferenz der Demokratie als Herausforderung für die Politische Theorie

Die Geschichte politischer Ideen und Theorien ermöglicht einen distanzierten, aufgeklärten Blick auf aktuelle Problemstellungen. Die zeitlos gültige Frage nach der besten Herrschaftsform lässt sich anhand der Schriften der "Klassiker" (z.B. Platon, Aristoteles, Machiavelli, Hobbes, Locke, Montesquieu) diskutieren. In den ‚Kanon‘ werden in der Regel nur solche Werke aufgenommen, die noch heute von Relevanz sind. Der Fokus der Privatdozentur von Jörg Tremmel (und der zuvor von ihm bekleidete Juniorprofessur) liegt also darauf, früher Gedachtes für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Hierbei geht es insbesondere um die Weiterentwicklung der Demokratie hin zu einem generationengerechten, nachhaltigen System. Der kleine, innovative Arbeitsbereich hat sich zum Ziel gesetzt, Lösungen für diese neue Herausforderung zu entwickeln.
Demokratien – sowohl repräsentative als auch direkte – stehen einem strukturellen Problem gegenüber: sie tendieren dazu, die Gegenwart der Zukunft vorzuziehen. Wahlvolk und gewählte Politiker streben Vorteile an, die kurzzeitig, zumindest aber während ihrer Lebensspanne anfallen. Die Kosten dafür werden in die Zukunft verlagert. Der Primärrhythmus der Demokratie richtet sich nach Wahlperioden, also nach Zeiträumen von 4 oder 5 Jahren. Oppositionspolitiker sind an ihrer Wahl interessiert, Regierungspolitiker an ihrer Wiederwahl. Dies zu behaupten unterstellt nicht, dem Politiker als Typus gehe es nur um Macht, Posten und Privilegien. Auch Politiker, die sinnvolle Sachpolitik gestalten wollen, benötigen dazu Gestaltungsmacht, und die haben sie nur in Ämtern.

Im Werben um Stimmen muss sich jede Partei auf die Vorlieben der gegenwärtigen Wählerschaft konzentrieren. Zukünftige Personen sind heute keine Wähler und können nicht in das Kalkül zur Maximierung von Wählerstimmen einbezogen werden. Wenn Politiker, egal welcher Partei, über die nächste Wahl hinaus agieren wollen, sind sie im Wettbewerb mit ihren kurzfristig orientierten politischen Gegnern benachteiligt. Letztlich werden Interessenskonflikte so durch die Mehrheit der Wahlberechtigten entschieden, nicht durch die Mehrheit der Betroffenen.
Ein weiterer Punkt: In Demokratien ist die Regierungsverantwortung von Politiker zeitlich begrenzt. Das ist gerade einer ihrer Vorteile. Es bedeutet aber auch, dass der einzelne Politiker nicht davon ausgehen muss, von eigenen kurzsichtigen Entscheidungen noch selbst dreißig oder vierzig Jahre später eingeholt zu werden. Er ist dafür nicht mehr haftbar, sobald eine neue Regierung an die Macht gekommen ist.
Demokratie, so wie sie bisher erdacht und umgesetzt wurde, scheint also unvereinbar zu sein mit der Maxime der Generationengerechtigkeit. Weder die liberale, noch die pluralistische, noch die partizipatorische Demokratietheorie sind darauf angelegt, die Interessen künftiger Generationen zu berücksichtigen. Diese politischen Theorien sind dem Kurzsichtigkeitsproblem der Demokratie nicht gewachsen. Es besteht also nicht nur ein Umsetzungsdefizit, sondern auch ein theoretisches Defizit. Das Problem wird sich nicht durch kosmetische Reformen beheben lassen. Vermutlich ist die jahrhundertealte Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative, wie sie von Montesquieu 1748 entworfen wurde, nicht mehr zeitgemäß. Eine neue institutionelle Ebene, welche die Interessen künftiger Generationen in heutige Entscheidungsprozesse einbringt, könnte nötig sein, um die politischen Systeme zukunftsorientiert zu machen. Der heutige Demos kann im 21. Jahrhundert die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen weit stärker beeinträchtigen als in früheren Zeiten. Dies könnte es rechtfertigen, das 1762 von Rousseau postulierte Prinzip der Volkssouveränität davon abhängig zu machen, dass dadurch nicht die Freiheit eines zukünftigen Demos zu stark eingeschränkt wird.

Demokratie zu reformieren heißt nicht, sie in Frage zu stellen. Die Kernbestandteile der Demokratie gehören selbst zu den wertvollsten Hinterlassenschaften, die wir künftigen Generationen vererben können.

Das Konzept der Generationengerechtigkeit

Generationengerechte Politik hat große Schnittmengen mit nachhaltiger und zukunftsorientierter Politik, betont jedoch die Generationen als Akteure. Der Interessenkonflikt zwischen Generationen tritt in den modernen Gesellschaften immer stärker als neue Konfliktdimension neben die vorhandenen "Kannbruchstellen" (z.B. die Cleavages zwischen Arm und Reich, Männern und Frauen oder verschiedenen Ethnien). Insofern wird im 21. Jahrhundert auch der faire Ausgleich zwischen Generationen - die Generationengerechtigkeit - immer wichtiger.


Hintergrund sind zwei unterschiedliche Strömungen, die sich aber beide in dem Schlagwort von der Generationengerechtigkeit verdichten. Da ist zum einen der seit den 1970er Jahren geforderte ökologische Umbau der Industriegesellschaft, der die Frage der Gerechtigkeit zwischen der heutigen und künftigen Generationen auf die Tagesordnung gesetzt hat. Obwohl unsere Gesellschaft bei diesem Umbau noch am Anfang steht, hat dieser Trend immerhin schon zum Aufkommen neuer Parteien in verschiedenen Ländern und zu einem beträchtlichen Bewusstseinswandel geführt.
Der zweite Megatrend ist der demografische Wandel, der nach Ansicht vieler Beobachter die modernen Demokratien in ihren Grundfesten erschüttern wird. Hier sind die Auswirkungen auf den Sozialstaat im Allgemeinen und auf umlagefinanzierte Sozialversicherungssysteme im Besonderen immens.

Folgt man der Trias von Policy (i), Polity (ii) und Politics (iii), so lässt sich das Forschungsfeld "Generationengerechte Politik" wie folgt abstecken:

(i) Im Rahmen der Policy-Forschung umfasst es die konkreten Politikinhalte und –maßnahmen z.B. in den Politikfeldern Umwelt-, Renten-, Gesundheits-, Pflege-, Finanz-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik, auch unter Berücksichtigung ihrer Wechselwirkungen.

(ii) Politik vollzieht sich immer in einem rechtlich strukturierten Handlungsrahmen, d.h. im Gefüge von Institutionen, die Lösungsmöglichkeiten für Interessenskonflikte vorstrukturieren. Ein wichtiger Aspekt des Forschungsfeldes ist die Gegenwartspräferenz der Demokratie, also das strukturelle Problem, dass eigennutzmaximierende Akteure Vorteile anstreben, die während ihrer Lebensspanne anfallen, die Kosten dafür aber in die Zukunft verlagern. Die Juniorprofessur für Generationengerechte Politik erforscht die Institutionen und Mechanismen, mit denen sich generationengerechtes und nachhaltiges Handeln in modernen Demokratien verankern lässt.

(iii) "Politics" betrachtet Generationen als Akteure, die im politischen Prozess agieren und dabei ihre Interessen in unterschiedlichen Arenen artikulieren. Die in zahlreichen Ländern existierenden Rentner- und Jugendparteien sind hier z.B. ein Forschungsobjekt.


Die Forschung erfolgt deskriptiv, analytisch und normativ: