ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī (1641-1731) - frühneuzeitlicher Erneuerer des Islam
von Emsad Cosic
Einen gesonderten Stellenwert innerhalb der islamischen Wissenschaften nimmt die Erforschung der geistigen und denkerischen Geschichte der frühmodernen islamischen Kultur und Zivilisation ein. Neueste historiographische Ergebnisse konstituieren Einsichten, die einem Paradigma von Stagnation und Niedergang der islamischen Intellektualität, jener ideell vieldeutigen Epoche, widersprechen.
Das Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen beherbergt ein tragendes Forschungsprojekt zu frühneuzeitlichen Netzwerken der Gelehrsamkeit des Islam. So ist es dem betreffenden Nābulusī-Forschungsprojekt am ZITH unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Lejla Demiri zu Teil geworden, zwischen dem 4. und 6. September 2014 eine erstmalig mehrere Disziplinen umfassende Konferenz zu diesem umfangreichen Gegenstand durchzuführen.
ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī (1641-1731) legte mit seinem umfassenden und einflussreichen Wirken ein Zeugnis von dem frühneuzeitlichen Bestreben ab, eine erneuerte Theologie zu begründen. Die Fülle des literarischen Schaffens al-Nābulusīs spiegelt die facettenreichen Dimensionen der frühmodernen islamischen Kultur und Zivilisation wieder und stellt ihn als Motiv eines neuen historiographischen Bewusstseins heraus.
Entsprechend reichte auch die Bandbreite der Themen von der hanafitisch-maturidischen Rechts- und Theologietradition und ihrer Verbindung mit der ascharitischen Schule der Theologie, der Interpretation des Vermächtnisses Ibn ʿArabīs, der Poesie, den Reisebüchern, dem islamischen Recht und den Bräuchen arabischer Provinzen bis hin zu der zeitgenössischen sunnitischen Gelehrtheit in der islamischen Welt und den religiösen, kulturellen und zivilisatorischen Entwicklungen innerhalb der christlichen und jüdischen Gemeinschaften des Osmanischen Reiches.
Die Liste der Teilnehmer an der Konferenz wiederrum hat gezeigt, wie viele aktive Akademiker der Erforschung al-Nābulusīs hohe Bedeutung beimessen. Ihre Beiträge erstreckten sich über insgesamt zehn Sitzungen von jeweils neunzigminütiger Dauer und anschließende Diskussionen.
Astrid Meier (Orient-Institut Beirut) stellte unter dem Titel „Words in Action: Nābulusī in his Juridical Writings“ den gesellschaftlich-rechtlichen Kontext dar, in dem al-Nābulusī wirkte und rezipiert wurde. Dabei legte sie besonderen Wert auf die Frage, wie al-Nābulusī als öffentliche Person wahrgenommen wurde und ob ihm die Position eines islamischen Modernisten zugewiesen werden kann.
Talal Al-Azem (University of Oxford) behandelte al-Nābulusīs Re-Kontextualisierung von Rechtsentscheiden aus der mamlukischen Zeit und sein Verlagern des Systems der Rechtsschulen in die frühe osmanische Zeit. Unter der Überschrift „The Legacy of Madhhab Pluralism in the Early Modern Arab World: ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī’s Khulāṣat al-taḥqīq fī bayān ḥukm al-taqlīd wa-al-talfīq“ erörterte er al-Nābulusīs Ansatz, einen Mittelweg zwischen der individuellen Freizügigkeit des Gewissens und der Bewahrung der intellektuellen, konservativen Tradition der Gelehrsamkeit in Recht und Ethik zu finden.
Ralf Elger (Universität Halle-Wittenberg) setzte sich in seinem Vortrag „Al-Nābulusī as a Liberal Fundamentalist“ mit den Schriften al-Nābulusīs zu kontroversen rechtlichen und theologischen Themen seiner Zeit auseinander, wobei er al-Nābulusī eine subtile und zugleich resolute Argumentationsweise gegen Versuche bescheinigte, eventuelle gesellschaftliche Umgangsformen und Praktiken zu rechtlich sanktionierten Tatbeständen zu machen, die noch zu Zeiten der frühen Muslime keiner rechtlichen Ahndung unterlagen.
Atallah Copty (Academic Arab College for Training Teachers in Haifa) stellte unter dem Titel „The Impact of Ibrāhīm al-Kūrānī’s (d.1101/1690) Legacy on the Writings of al-Nābulusī” den Einfluss dieses Gelehrten auf al-Nābulusīs Rezeption seiner Standpunkte zu umstrittenen Fragen vor. Im Mittelpunkt dieser Darstellung stand die Entwicklung der eigenen Deutung und Positionierung al-Nābulusīs gegenüber der theologischen Diskussion über das Menschenbild und die Handlungsfreiheit des Menschen.
Jawad Anwar Qureshi (University of Chicago) hielt einen Vortrag mit dem Titel „Some of ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī’s Kalām Writings“, in dem er gezielt eine Übersicht mehrerer Schriften al-Nābulusīs zu Glaubensgrundlagen darbot und detailliert auf besondere Inhalte, Fragestellungen und Probleme einging. Die vorgestellten Themen reichten hierbei von den Erörterungen al-Nābulusīs zu den Eigenschaften Gottes über die Verwurzelung seiner Theologie in der Offenbarung bis hin zur Auseinandersetzung mit Kausalität und der menschlichen Handlungsfreiheit.
Naoki Yamamoto (Kyoto University) trug unter dem Titel „Hell without Pain: ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī’s Response to Ibn Taymiyya’s Conception of the Extinction of Hellfire (Fanāʾ al-Nār)“ al-Nābulusīs Beitrag zur Debatte über die ewige Bestrafung im Jenseits vor. Auf die Vorstellung früher eschatologischer Traditionen über ein zu erwartendes Ende der jenseitigen Bestrafung eingehend, stellte er al-Nābulusīs Verständnis von der Besonderheit der Selbstoffenbarung Gottes gegenüber den Insassen des Höllenfeuers und der daraus folgenden Überwindung der jenseitigen Strafe vor.
Steven Styer (University of Oxford) behandelte mit seinem Vortrag „The Relation of Kalām Theology and Akbarian Mysticism in the Thought of ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī” die Hintergründe der theologischen Ansichten al-Nābulusīs unter der Berücksichtigung der maßgeblichen mystischen Denkrichtungen seiner Zeit. Ein besonderes Augenmerk galt hierbei dem Studium der Person und des in dieser Hinsicht bedeutenden Beitrags al-Nābulusīs. Er betrachtete diese als Grundlage für eine vielversprechende Fallstudie über intellektuelle Trends und Begegnungen des mittelalterlichen Kalām am Beispiel der dialektischen Widmung al-Nābulusīs gegenüber dem theologischen Diskurs im osmanischen Syrien.
Ahmad Sukkar (University of London) stellte unter der Überschrift „Al-Nābulusī on al-Suhrawardī’s Illuminationism and Ibn ʿArabī’s Unity of Being“ einen Schlüsseltext al-Nābulusīs als erweiterten Kommentar einer Abhandlung des berühmten Kemalpaşazâde über die Wirklichkeit des Menschen vor. Er bekräftigte den Wert dieser Schrift für einen Aufschluss über die philosophisch-mystische Debatte im Verlauf von fünfhundert Jahren der denkerischen Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit dieses Phänomens der menschlichen Wahrnehmung. Hierbei galt einer der Grundgedanken der Originalität al-Nābulusīs als Denker und Mystiker, der eine Annäherung verschiedener philosophischer und mystischer Richtungen vollbringt.
Denis Gril (Aix-Marseille Université) setzte sich in seinem Vortrag „ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī, Commentator of Ibn al-ʿArabī: The Jawāhir al-nuṣūṣ fī ḥall kalimāt al-Fuṣūṣ“ mit den Kommentaren al-Nābulusīs zu dieser berühmten Schrift Ibn al-ʿArabīs auseinander. Er unterstrich den Beitrag al-Nābulusīs, dieses Werk zugänglicher gemacht und zugleich, eine eigene Deutung und Vorstellung dessen gegeben zu haben, die sich grundsätzlich in den wichtigsten Arbeiten al-Nābulusīs zum Thema waḥdat al-wuğūd widerspiegeln.
Samir Mahmoud (American University of Beirut) bot mit seinem Vortrag „The Poetics of the Sensible World: ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusīs Aesthetics” einen Einblick in das ästhetische und poetische Einfühlungsvermögen al-Nābulusīs als eines Kommentators Ibn al-ʿArabīs. Er hob dabei al-Nābulusīs Vorbild der Aneignung einer physisch sensiblen Wahrnehmung des Erfahrbaren auf der Suche nach Gott hervor, als Kontrast zu anderen philosophischen Kommentatoren visionärer und ästhetischer Impulse.
Ali Ghandour (Universität Münster) stellte in seinem Vortrag „The Principles of Epistemology in the Thought of Muḥyī al-Dīn Ibn al-ʿArabī and ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī” einen Vergleich der beiden Gelehrten im Rahmen einer Systematisierung sufischer Erkenntnislehre in den Vordergrund. Ein wesentlicher Ausgangspunkt in diesem Zusammenhang war seine Annahme, dass Ibn al-ʿArabī und al-Nābulusī stellvertretend für die Entwicklung der sufischen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie in der Zeit zwischen dem 12. und 18. Jahrhundert sind.
Aladdin Bakri (Damaskus) zeichnete in seinem Vortrag die grundlegenden Konturen von al-Nābulusīs‘ Umgang mit der Thematik der „Einheit des Seins“ nach Muḥyī al-Dīn Ibn al-ʿArabī nach. Hierbei stellte Bakri zunächst fest, dass al-Nābulusīs‘ Beschäftigung mit Ibn al-ʿArabī mit einem ausgeprägten historischen Bewusstsein über die intellektuellen Angriffe vor allem seitens des Gelehrten Taqī ad-Dīn Aḫmad ibn Taimīya (1263–1328) während der Mamlukenzeit verfügte. Auch habe al-Nābulusī, neben weiteren Gelehrten, in der Wiederbelebung der Lehren des Ibn al-ʿArabī einen entscheidenden Einfluss gehabt. Schon während der frühen Phase des Osmanischen Reiches entstanden bereits unter Sultan Selim I (1470–1520) erste Versuche, eine Brücke zwischen den Religionsgelehrten und den Sufis zu schlagen. So entstanden im weiteren Verlauf der osmanischen Geschichte mehrere Schriften zur Verteidigung von Ibn al-ʿArabīs‘ Verständnis der „Einheit des Seins“, auf die al-Nābulusī später auch rekurriert. Laut Bakri stellt die Arbeit des al-Nābulusī jedoch einen neuen und entscheidenden Unterschied dar, da er diese als erste systematische Darstellung des Konzeptes der „Einheit des Seins“ nach Ibn al-ʿArabī sieht.
Florian Lützen (Universität Hamburg) erörterte in seinem Vortrag unter dem Titel “The Allegorical Contemplation (al-tafsīr bi-l-ishāra) in the Teachings of Aḥmad ibn ʿAjība and ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī“ das Verhältnis und den Stellenwert der allegorischen Interpretation bei al-Nābulusī. Dabei hob er vergleichend al-Nābulusīs Voranbringen sufischer Theologie als grundlegenden Teil religiösen Wissens und die systematisierte Anwendung dieser Prinzipien auf theologische Fragestellungen hervor.
Paul Ballanfat (Galatasaray Üniversitesi) ging in seinem Beitrag mit der Überschrift „Speaking between Source and its Determination: Interpretation of the Poem Ṣarīḥ kalāmī fī al-wujūd wa-īmāʾī of the Dīwān of Nābulusī“ auf al-Nābulusīs dichterisches Schaffen ein. Mit Hilfe einer Klassifizierung seiner Poesie als mystische und didaktische Dichtung setzte er sich mit der Wirkung dieser literarischen Form und ihrer besonderen Wirkung als spiritueller Rede al-Nābulusīs auseinander.
Katharina Ivanyi (Columbia University) vergegenwärtigte unter dem Titel „ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī’s Commentary on Birgivī Meḥmed Efendī’s al-Ṭarīqa al-Muḥammadiyya“ al-Nābulusīs feinsinniges Interpretationsvermögen. In diesem Zusammenhang hob sie al-Nābulusī als Beispiel der modernen Kommentatoren und ihres Einflusses auf die Wahrnehmung der zeitgenössischen Merkmale und Auseinandersetzungen in Politik und Gesellschaft im Osmanischen Reich des 17. Jahrhunderts hervor.
Jonathan Allen (University of Maryland) bettete in seinem Vortrag „Reading Birgilī with and against the Grain: Contested Interpretations of Birgilī’s al-Ṭarīqa al-Muḥammadiyya in the 17th-18th Century Ottoman Empire” al-Nābulusī in einen breiteren historischen und kulturellen Zusammenhang ein. Er bezog al-Nābulusīs spezifische Sichtweise auf einen ausgedehnteren religiösen Wirkungskreis und den Kreislauf religiöser Texte, die seine Perspektive als Kommentatoren beeinflussten und prägten.
Samer Akkach (University of Adelaide) setzte in seinem Vortrag „Islamic Cosmology in the Post-Copernican Period: Reflections on al-Nābulusī’s Views” voraus, dass al-Nābulusīs Standpunkte ein weitläufiges Nachdenken über die Ideen und Überzeugungen seiner Zeit darstellen. Er veranschaulichte hierfür die Abwesenheit einer tiefgreifenden Resonanz muslimischer Gelehrter aus al-Nābulusīs Gegenwart gegenüber der Kopernikanischen Wende. Die Kosmologie als Wissenschaft des Kosmos hätte hierbei kein exaktes Äquivalent im islamischen Spektrum der Wissenschaften gefunden. Er stellte fest, dass für al-Nābulusī die Kosmologie nie den Stellenwert des Ontologischen erreicht hätte und sich geradezu exemplarisch in der hermeneutischen und mystischen Sphäre widerspiegelte.
John O. Voll (Georgetown University) legte unter der Überschrift “Who were al-Nābulusī’s Students: The Nature of the Networks of his Students” den ausgedehnten Kreis der Schüler al-Nābulusīs aus. Mit der Einsicht in die Gelehrtenkreise, denen al-Nābulusī selbst angehörte, unterstrich er die Bedeutung dieser Netzwerke und des Erforschens ihrer intellektuellen Diskurse und Kommunikation. Hiernach könne al-Nābulusī als Träger bestimmter Elemente der Aufklärung eingestuft werden, trotz seinerzeit fehlender institutionalisierter Auseinandersetzung mit dem modernen Verständnis von Naturwissenschaften.
Nir Shafir (University of California) schilderte unter dem Titel „Reading, Writing and Remembering: ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī and his Relationship with Books” den Umfang von Schriften al-Nābulusīs und seiner Vorgehensweise in der Vermittlung von Wissen, die unter anderem als Moment der Überwindung der zentralen Rolle von Auswendiglernen und Mittel der Ausdehnung des Leserkreises identifiziert werden können. Er zeichnete ein Bild al-Nābulusīs als Leser und Autor, der eine Veränderung der Rezeption von Wissen im Mittleren Osten des späten 17. Jahrhunderts mittrug.
Steve Tamari (Southern Illinois University) stellte al-Nābulusīs Reisetätigkeiten und ihren Einfluss auf die historische Übermittlung und Wahrnehmung der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der arabisch-osmanischen Welt vor. In den Reisen al-Nābulusīs erkannte er eine reichhaltige Möglichkeit an Einsicht in al-Nābulusīs Vielseitigkeit und die theologische Diskussion seiner Zeit samt Positionierung al-Nābulusīs als Vertreter des Sufitums und Verteidiger volkstümlicher religiöser Praxis.
Erdal Toprakyaran (Universität Tübingen) untersuchte in seinem Vortrag unter dem Titel „The importance of ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī for the Central Ottoman ‘Ilmiyye in the 18th Century“ anhand der mystischen Initiationskette (silsila) hoher osmanischer Beamter des islamischen Gelehrtenstandes (‘ilmiyye), welche traditionell auch die Verantwortung des osmanischen Şeyhülislām einschloss, die Tragweite al-Nābulusīs als Lehrer und Überlieferer der islamischen Mystik (taṣawwuf). Als wesentlichen Zusammenhang stellte er die Auffassung der angesehensten Mitglieder der ‘Ilmiyye im 18. Jahrhundert vor, wonach al-Nābulusī der führende geistige Anker seiner Zeit gewesen sei (quṭb waqtihī). Al-Nābulusī könne demnach als letzte große Berühmtheit in der spirituellen Kette dieser Gelehrten der islamischen Mystik gelten.
Die Organisatorinnen Lejla Demiri (Universität Tübingen) und Samuela Pagani (University of Salento) kündigten eine baldige Veröffentlichung der Ergebnisse der Konferenz an, die zugleich einen Ausblick und eine Anregung für zukünftige Entwicklungen und Projekte in der Erforschung al-Nābulusīs bedeuten. Bereits im Verlauf der finalen Plenumsrunde aller Teilnehmer wurden Vorschläge u.a. für die Erstellung einer interaktiven Webplattform, einer integrierten Übersicht von Wissenschaftlern und Institutionen, die in diesem Feld forschen, und der Sammlung interdisziplinärer Forschungsergebnisse gemacht.
Ein besonderer Dank gilt dem Graduiertenkolleg Islamische Theologie der Stiftung Mercator und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Förderung dieser wissenschaftlichen Konferenz.