Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Die Frage der Verantwortung

von Katharina Wezel

31.03.2020 · In der Debatte um die Handhabung der Corona-Pandemie wird häufig vergessen: Verantwortung übernehmen und Solidarität zeigen heißt nicht nur, den Großeltern den Einkauf abzunehmen und gewissenhaft die Hände zu waschen. Wir müssen uns jetzt fragen, was wir tun können, damit wir denjenigen eine Stimme geben können, die im Getöse der Aufregung um Corona untergehen. 

Inzwischen ist bekannt, dass es in der Corona-Pandemie medizinisch gesprochen hauptsächlich darum geht, die Verbreitung des Virus auf vulnerable Bevölkerungsgruppen hinauszuzögern und unsere Gesundheitssysteme nicht zu überlasten. Das Motto lautet #Flattenthecurve. Dieses Ziel ist wichtig und wird auch auf den Plattformen der sozialen Medien zur allgemeinen Zielsetzung: Solidarität zeigen, Verantwortung übernehmen. Aber was bedeutet es, in Zeiten von Krisen Verantwortung zu übernehmen? Reicht es aus, den Nachbarn einen Zettel in den Briefkasten zu werfen, auf dem steht, dass wir ihnen gerne den Einkauf abnehmen? Sollte die Maxime gerade sein, allein den Anweisungen des Robert-Koch-Instituts und der Bundesregierung zu folgen, auch wenn das heißt, dass wir Mensch unter sozialer Isolation leiden? Hygienische Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten und der solidarischen Pflicht nachzukommen, weitestgehend zuhause zu bleiben, sind Zeichen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Und trotzdem reichen diese Maßnahmen nicht aus, um Prämissen der Fürsorge, des ethischen Umgangs miteinander und der Solidarität zu genügen. Denn solange wir die Aufregung der Coronakrise nur dazu nutzen, unseren Kreis der Empathie immer enger zu ziehen – erst auf die Familie, die Großeltern, und zum Schluss nur noch auf uns selbst – bleiben wir blind für alles, was diesen Kreis nicht direkt betrifft.  

Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist es nichts Neues, dass manche Krankheiten, insbesondere diejenigen, die den Globalen Norden betreffen, zur Priorität des politischen Handelns werden. Dass zur selben Zeit wie der Ebola Epidemie 2014–2016 ein Polioausbruch ebenfalls von der WHO zur gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite erklärt wurde und viele Menschenleben forderte, interessierte in der öffentlichen Debatte kaum jemanden. Ebola wurde als Gefahr für den Westen verstanden – Polio nicht. Der eine Ausbruch löst mediale Aufmerksamkeit und Finanzspritzen aus, der andere nicht. Dass der jährliche Influenzaausbruch in Deutschland für alle, die nicht unmittelbar betroffen sind, zur Nichtigkeit degradiert wird, ist deshalb auch keine Überraschung. Wir neigen dazu, auf das zu fokussieren, das uns am nächsten liegt und dabei besteht die Gefahr, zu übersehen, was um unseren Dunstkreis herum geschieht. Und genau an diesem Punkt liegt die größte Verantwortung, die wir alle tragen. Wir müssen uns mit Themen auseinandersetzen, die gerade keinen Raum in der öffentlichen Debatte bekommen. Wir müssen denjenigen zuhören, die unter dem Coronaausbruch am ehesten leiden, denn es ist mutmaßlich nicht Max Mustermann, mittelalter durchschnittsverdienender Mann mit robustem Immunsystem. 

Wenn Desinfektionsmittel gehortet und im schlimmsten Fall Schutzmaterial aus Rettungswagen und Pflegemobilen gestohlen wird, müsste gleichzeitig bedacht werden, dass fast zwei Millionen häuslich gepflegter Menschen in Deutschland nicht unter adäquaten Hygienestandards betreut werden können, was für sie zum Überlebenskampf werden könnte. Hashtags wie #coronaholiday, unter dem Menschen ihren spontanen Urlaub auf Balkonien feiern, verhöhnen psychisch erkrankte Menschen, für die Arbeitsverbot und Isolation zur Zerreißprobe wird. Wenn wir darüber lachen, dass das Gesundheitssystem in Italien doch kaum vergleichbar sei mit dem deutschen, dann müssen wir darüber nachdenken, dass wir die Robustheit unserer Gesundheitsinfrastruktur belasten, wenn sich Menschen immer noch zum Grillen im Park verabreden. Ebenfalls wichtig wäre jetzt die Diskussion von rassistischen Sentiments, die in verängstigten Blicken gegenüber chinesischen Austauschstudierenden und jedem Schulterklopfen der europäischen Impfbranche mitschwingen, denn viele glauben, wir sind nicht nur individuell sondern auch strukturell anderen Gesellschaften überlegen. Und ganz besonders wäre jetzt der Moment, auf die Stimmen zu hören, die an den Landesgrenzen der Europäischen Union abprallen müssen, weil wir anderweitig beschäftigt sind. Vergessen sind die Geflüchteten auf Lesbos und vor den Toren von Malta. Vergessen sind die rechtspopulistischen Umtriebe in Thüringen und die rechten Terror-Anschläge in Hanau. Stattdessen wird alleine nationale, fast nationalistische Krisenbearbeitung großgeschrieben.  

Was eine Pandemie wie Corona zum Vorschein bringt, sind die blinden Flecken im gesellschaftlichen Miteinander, schief gelagerte Verantwortungsvorstellungen und teilweise mangelnde Menschlichkeit, aus Angst, man selbst komme zu kurz. Krisen wie diese halten einen gesellschaftlichen Spiegel vor, der schonungsloser kaum sein könnte. Was deshalb neben freundlicher Nachbarschaftlichkeit und gewissenhaftem Händewaschen unser Ziel sein sollte, ist die Frage, wo momentan der eigene Horizont aufhört. 

Krisenzeiten sind deshalb auch Zeiten, in denen wir uns bewusst mit Verantwortungsfragen und Verhältnismäßigkeit auseinandersetzen müssen, ohne dass wir bei uns selbst und den uns bekannten Menschen stehen bleiben. Wir haben eine Verantwortung dafür, den ‚Empathie-Muskel‘ zu trainieren und zu überlegen, welche unserer Handlungen anderen schaden oder helfen. Wir tragen ebenfalls die Verantwortung, unsere eigene Perspektive zu hinterfragen. Wir müssen deutlich machen, welche Stimmen im lauten Geschnatter um Corona überhört werden. Diese Form der Verantwortung ist anspruchsvoll, denn sie verlangt, lokal zu handeln und dabei global zu denken. Hände waschen, Abstand halten und dennoch füreinander da sein ist wichtig. Aber unser Ziel muss zugleich sein, unseren Horizont zu erweitern, Bedürfnisse und Ängste ernstzunehmen, die nicht unmittelbar unsere eigenen sind und dementsprechend zu handeln, auch wenn das Verzicht bedeutet. Das wäre Solidarität in Zeiten von Corona.

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