Von Kläranlagen, Reifenabrieb und einer überforderten Gesellschaft
„Ich rede nicht über CO2, das Corona-Virus oder militärstrategische Fragen im Kontext des Kriegs“, machte der gebürtige Tübinger Armin Nassehi zu Beginn seines Vortrags „Klima, Krieg, Corona: Die überforderte Gesellschaft“ klar. Eine überraschende und zugleich nachvollziehbare Ankündigung, da der Münchner Soziologe zwar in verschiedenen Gremien der Politikberatung tätig ist, aber keine Lösungen aus naturwissenschaftlicher oder medizinischer Sicht erarbeitet. Welchen Mehrwert hat es also, die gegenwärtigen Krisen aus soziologischer Sicht zu analysieren? „Krisen verweisen auf etwas, was in der Gesellschaft stattfindet“, untermauerte Nassehi die soziologische Relevanz des Themas. Als Wissenschaftler interessiere ihn, wie eine Gesellschaft selbst hervorgebrachte Krisen mit eigenen Mitteln bewältigen kann.
Seine Antwort verweist auf den Untertitel seines 2021 veröffentlichten Buchs „Unbehagen“ und die Headline des Vortrags: Die Gesellschaft sei mit ihren Krisen überfordert. Eine Krise bedeute das Erleben von gestörter Interdependenz, von nicht kombinierbaren Erwartungen und Wünschen an das Leben, so Nassehi. Zugleich zeige eine Krise, wie vulnerabel unser komplexes System sei und zu welchen Zielkonflikten die funktionale Differenzierung der Gesellschaft führe. „Was daraus folgt, sind kollektive Krisen, aber die Gesellschaft agiert nicht als Kollektiv“, analysierte der Soziologe. Seine Argumentation leuchtet nicht zuletzt für den Kontext des Klimawandels ein: Wie können wir Kräfte bündeln, wenn sich die Politik primär auf Mehrheitsbildung, die Wirtschaft auf finanzielles Wachstum und die Wissenschaft auf Erkenntnisgewinn und Identifikation von Forschungslücken konzentriert? Deshalb werde dringend benötigtes Handeln dadurch erschwert, dass es nicht in bestehende Rollenkonzepte und kulturelle Zusammenhänge passe, schlussfolgerte Nassehi. Eine mögliche Lösung? „Wir brauchen translationale Wissenschaft, die – analog zur Medizin – Erkenntnisse aus den Grundlagenwissenschaften in die breite Praxis überführt“, so Nassehis Vorschlag, wenngleich auch hier das Vertrauen gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis nicht nach wissenschaftlichen Prinzipien, sondern vor allem nach politischen und ökonomischen Kriterien gewonnen werden würde.
Wie translational orientierte Nachhaltigkeitswissenschaft in diesem Sinne erfolgen und verschiedene Perspektiven zusammenführen kann, wurde bei der Nachhaltigkeitspreisverleihung unmittelbar vor Nassehis Sustainability Lecture deutlich: Bereits zum zwölften Mal ehrte die Universität Tübingen, vertreten durch Kanzler Dr. Andreas Rothfuß, Studierende, die sich in ihrer Abschlussarbeit in herausragender Weise mit Themen rund um Nachhaltige Entwicklung beschäftigen. Wie die Studiengänge der Preisträgerinnen zeigen, ist Nachhaltigkeit keineswegs ein Thema, das sich auf eine einzelne Disziplin beschränkt. So wurden jeweils drei Bachelor- und Master-Arbeiten verschiedenster Fachrichtungen prämiert: Hanna Disch (Kognitionswissenschaft) entwickelte in ihrer Bachelor-Arbeit mithilfe von Zeitreihen statistische Modelle zur Optimierung der Solarenergie-Nutzung, Anne Krehl (Biologie) untersuchte den Effekt von Plastik auf den Wassergehalt und die Pflanzenfitness in verschiedenen Bodenarten und Nike Andrea Macht (Umweltnaturwissenschaften) prüfte die Auswirkungen von Ozonung in Kläranlagen auf die Wasserqualität. Die prämierten Master-Arbeiten stammen von Alexandra Riegger (Lehramt Mathematik und Chemie), die eine BNE-Unterrichtseinheit für das Fach Mathematik konzipierte und evaluierte, Tatjana Tull (Evolution und Ökologie), die die Belastung von Zuckmückenlarven durch Reifen- und Straßenabrieb analysierte, sowie Carolin Walper (Physische Geographie – Umweltgeographie), die vegetationsspezifische Folgen von Sanddämmen in semiariden Regionen erforschte.
Abgerundet wurde die Veranstaltung durch einen Empfang. Dabei konnten die Gäste mit den Preisträgerinnen und Armin Nassehi weiter ins Gespräch kommen.
Maximilian Irion