Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Well-Being and Health – Was brauchen wir? Eine Deutsch-Tansanische Annäherung aus der Sicht von Mädchen und Kleinbäuerinnen

von Kerstin Schopp & Maike Weynand

06.02.02024 · Frauen, Mädchen und Menschen, die sich dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen, erfahren weltweit Benachteiligung und Sexismus. Auch im Bereich Gesundheit werden die Belange von Frauen nicht ausreichend berücksichtigt. Dies geht aus dem ersten Global Health Women’s Health Index hervor, der das Thema Frauengesundheit in den Bereichen Vorsorge, Meinungen zu Gesundheit und Sicherheit, emotionale sowie individuelle Gesundheit und Grundbedürfnisse in den Blick nimmt. Diese Bereiche finden sich in Nussbaums Fähigkeitenansatz, beispielsweise in den Fähigkeiten körperlicher Gesundheit, körperlicher Unversehrtheit und Emotionen wieder, welche nach Nussbaum benötigt werden, um ein gutes Leben zu führen (vgl. Nussbaum 1999). Daran angelehnt setzen wir in diesem Blogbeitrag Daten aus zwei unterschiedlichen transkontinentalen Erhebungskontexten miteinander in Bezug, um einen Einblick in ausgewählte Aspekte von Vorstellungen eines guten Lebens im Rahmen eines holistischen Gesundheitsverständnisses von Mädchen und Frauen zu geben und diese miteinander zu vergleichen. Zum einen wurden mit weiblichen Jugendlichen (11-15 Jahre, im Folgenden als Mädchen bezeichnet) im Großraum Tübingen in Gruppengesprächen im schulischen Raum die Frage diskutiert, was diese benötigen, damit es ihnen gut geht. Zum anderen wurden mit Kleinbäuerinnen im Großraum Arusha und Moshi, Tansania, Vorstellungen des guten Lebens in Form von Interviews und Fokusgruppendiskussionen erhoben (im Folgenden als Kleinbäuerinnen bezeichnet). 

Im Folgenden stellen wir Vorstellungen eines guten Lebens beider Gruppen für die Bereiche körperliches und mentales Wohlbefinden, soziales Umfeld und gesellschaftliche Erwartungen vor und diskutieren diese. Wir fokussieren explizit auf Ähnlichkeiten und Überschneidungen in den Vorstellungen unserer Zielgruppen. Selbstverständlich gibt es auch Bereiche, in denen die Vorstellungen weit auseinandergehen und stark von den Kontexten und aktuellen Lebenssituationen geprägt sind.

Körperliches Wohlbefinden – “[…] having breakfast in the morning, porridge lunch and then dinner that is a good live” (I_46/47)  

Die Kleinbäuerinnen erwähnen unterschiedliche Aspekte körperlichen Wohlbefindens, darunter ihren Körper und Bewegung, der Bezug zu Krankheit, Ernährung und Schlaf. Am eigenen Köper erfahren die Frauen Gesundheit am besten, wenn sie sich fit und stark fühlen. Sie möchten gesund aufwachen, keine Krankheit erfahren und sich aktiv um ihre Gesundheit kümmern, beispielsweise in Form von Check-Ups im Krankenhaus, was jedoch nur mit genügend Geld für die big health insurance geht. Guter Schlaf sowie gutes und ausreichendes Essen für die Familie sind der Gesundheit zuträglich. Für Ersteren benötigen die Frauen einen angenehmen Ort, ein gutes Haus, ein Bett und eine Matratze. Zu wissen, was sie nach dem Aufwachen essen und die Möglichkeit von wechselnden Mahlzeiten – im besten Fall dreimal täglich – gibt ihnen Sicherheit. Auch die Relevanz von nicht selbst angebauten, sondern gekauften Lebensmitteln wie Reis, Zucker oder Fisch als Zeichen für Wohlstand wird erwähnt.  Als Bäuerinnen haben sie direkten Einfluss bei der Produktion ihrer Feldfrüchte und lehnen hierbei die Nutzung industrieller Düngemittel aufgrund der darin enthaltenden krankheitserregenden Giftstoffe ab.

Die anfangs genannten Kriterien körperlichen Wohlbefindens finden sich auch bei den Mädchen wieder. Oft nähern sie sich über Negationen an die Bedeutung des Begriffs an. Über Formulierungen wie „nicht krank sein“, „keine Medikamente nehmen müssen“ und „keinen Stress haben“ gelangen sie zu gesundheitsfördernden Aspekten wie ausreichender Bewegung, Hobbies (z.B. Tanzen, Fußball oder Singen), ausreichendem Schlaf und gesunder Ernährung. Zu letzterer gehört nicht nur das Was (z.B. vielseitige und ausgewogene Ernährung), sondern auch das Wie (selbstständig Kochen und Backen, allein oder mit anderen zusammen). Im Gespräch ergeben sich häufig weitere Kriterien gesunder Ernährung wie das Spüren von Hunger und Sättigung und das Genießen von Mahlzeiten mit anderen Personen zusammen. Zudem erwähnen die Mädchen das Bedürfnis nach Anerkennung für ihren Körper. Ein Weg für sie dorthin ist die Einflussnahme auf ihr äußeres Erscheinungsbild, indem sie sich pflegen, beispielsweise schminken und damit ihren „Körper als Projekt“ (Ammicht-Quinn 2005:75) angehen.

Im Bereich körperliches Wohlbefinden erwähnen die Mädchen und Frauen Aspekte, die sich in den Fähigkeiten Leben, körperliche Gesundheit und Spiel nach Nussbaum wiederfinden.

Mentales Wohlbefinden – “I become free when I’m on the farm” (I_40) und “Wenn ich traurig bin, höre ich Musik.”

In Bezug auf die von Ammicht-Quinn (2005: 72 f.) beschriebene Wahrnehmung, dass für Heranwachsende Gesundheit selbstverständlich ist, sehen wir im Bereich mentales Wohlbefinden eine Veränderung knapp vier Jahre nach Beginn der Pandemie: Die Mädchen sehen mentale Gesundheit als weniger selbstverständlich an, sondern berichten vielmehr von Sorgen, Unsicherheiten und Überforderung im Zuge der Pandemie, die bis heute nachwirken. In Bezug auf die ‚seelische Gesundheit‘, wie sie von den Mädchen häufig genannt wird, erzählen diese von diversen Strategien, um mit herausfordernden Gefühlen und Situationen umzugehen und innerlich Kräfte zu sammeln. Dazu gehört zum Beispiel das Hören und Machen von Musik und eine vertraute, saubere und sichere Umgebung – meistens das eigene Zimmer. Sich auch mal zurückziehen zu können, um Zeit für eigene Gedanken und Emotionen zu haben, sehen die Mädchen als wesentlichen Teil ihrer mentalen Gesundheit. Ein Detail aus manchen Workshops ist die explizite Zuordnung von ‚Liebe‘ in den mentalen Bereich von Wohlergehen. Mit Liebe sind in diesem Fall weniger konkrete Beziehungen zu geliebten Menschen gemeint, sondern vielmehr eine Art Grundgefühl, welches dazu beiträgt, der Welt stabil, offen und zugewandt zu begegnen.

Auch die Kleinbäuerinnen erwähnen Grundgefühle, welche zu ihrem guten Leben beitragen. Dies sind Frieden, Glück, Sicherheit und Freiheit. Letztere bezieht sich nicht nur auf das Gefühl, über die eigenen Aktivitäten entscheiden zu können („If I find something is tiresome, I change it to something that gives a little of freedom.” (I_32)), sondern auch darauf, Freiheit bei der Farmarbeit zu spüren. Das Gefühl von Sicherheit bezieht sich z.B. darauf, genügend Feldfrüchte zu ernten, auf den Verzicht von gesundheitsschädlichen industriellen Giften oder das Wissen, einen Landtitel zu besitzen. Geld wird ebenfalls erwähnt, denn wenn Geld vorhanden ist, spüren die Frauen eine innere Ruhe. Zwei weitere wichtige Punkte, die zum mentalen Wohlbefinden beitragen, sind sich selbst zu lieben sowie sich zu entspannen und ein Bier zu gönnen.

Zusammengefasst gibt es Überschneidungen zwischen den Vorstellungen der Mädchen und Frauen mit den Fähigkeiten (nach Nussbaum) Sinneswahrnehmung, Vorstellungskraft und Denken, Emotionen und praktische Vernunft.     

Soziales Umfeld – “We live depending on each other” (I_23)

Dieser Bereich wird von den Mädchen häufig als besonders wichtig für das eigene Wohlergehen gesehen: die Beziehungen zu geliebten Menschen wie Familie und Freund*innen sowie zu nicht-menschlichen Lebewesen wie Haustieren. Die Mädchen gestalten ihre Beziehungen aktiv mit, indem sie zuhören, Ratschläge geben, andere zum Lachen bringen, fürsorglich und hilfsbereit sind. Sie sehen sich teilweise in beschützender Rolle, wenn es etwa um jüngere Geschwister geht, und erfahren gleichzeitig Schutz und Geborgenheit in ihrem sozialen Auffangnetz. Konflikte im engen Kreis machen sich in Kontexten wie der Schule deutlich bemerkbar. „Wenn ich mich gestritten habe, kann ich mich im Unterricht nicht konzentrieren.“

Die Kleinbäuerinnen erwähnen den Ehemann, die Familie und das erweiterte soziale Umfeld mit Freund*innen und sozialen Gruppen als wichtigen Bestandteil ihres guten Lebens. Witwen erzählen davon, dass sie sich allein fühlen und ein gutes Leben hatten, als sie noch zu zweit waren: „[…] when my husband was alive, we were one thing, but now he is gone, I am the one left” (I_24). Eine glückliche Familie, die friedlich zusammenlebt, kann sich gegenseitig unterstützen, zusammenarbeiten und sogar die Basis für eigenes Empowerment sein. Eine ältere Bäuerin erklärt: „I am with my father [her husband] and grandchildren, so I feel that my life is good” (I_21). Auch Menschen außerhalb der eigenen Familie sind wichtig, da sie Ratschläge geben, die Frauen sich aufgefangen fühlen, sie gemeinsam lernen und wachsen sowie Hilfe erfahren.

Bezogen auf ihr soziales Umfeld lassen sich Verbindungen der Vorstellungen der Mädchen und Frauen zu den Fähigkeiten Verbundenheit mit anderen Menschen und Verbundenheit mit anderen Lebewesen herstellen.

Gesellschaftliche Erwartungen vs. „Ich möchte über mich selbst bestimmen.“

Die Mädchen haben klare Vorstellungen davon, wie sie laut Gesellschaft sein sollen und wie sie sein wollen. Sie bewegen sich tagtäglich im Spannungsfeld gesellschaftlicher Erwartungen und eigener Wünsche und Visionen. Als gesellschaftliche Erwartungen identifizieren die Mädchen teils widersprüchliche Aspekte: Sie sollen

  • gepflegt und geschminkt sein, aber nicht zu auffällig,
  • ihre Meinung sagen, aber nicht zu dominant sein,
  • glücklich und zufrieden sein und sich mit eigenen Bedürfnissen zurücknehmen,
  • Kinder haben wollen,
  • einen normschönen Körper anstreben,
  • lieb, nett und ruhig sein, aber nicht zu zurückhaltend.

Auch die Kleinbäuerinnen nehmen eine Erwartungshaltung der Gesellschaft an sich wahr und äußern diese in Bezug auf ihr Erscheinungsbild. Sie möchten sowohl sich selbst passend kleiden als auch ihre Kinder gut anziehen können. Zudem wird die Rolle als Frau in der tansanischen Gesellschaft klar geäußert und auf sich selbst projiziert. Die Wünsche nach „dress like other people“ (I_45), Kindern und einem Ehemann sowie einer glücklichen Familie werden von fast jeder der befragten Frauen erwähnt.

Die Mädchen entwerfen im Gegensatz zu den von ihnen wahrgenommenen Erwartungshaltungen ein Bild, in dem sie laut und stark sind, auch ihre Trauer und Wut ausdrücken können, ihren vielseitigen Hobbies nachgehen, lieben, wen sie wollen, für sich einstehen und über sich selbst bestimmen.

Die Kleinbäuerinnen entwerfen ebenfalls das Bild von starken Frauen, wenn sie über ihre Wünsche oder eine ideelle Welt sprechen. Sie betonen die Relevanz von Bildung und Anerkennung und sind stolz auf ihr Wissen. Gerade junge Frauen erwähnen zudem, dass sie sich in der Landwirtschaft verwirklichen möchten.

Im Bereich gesellschaftliche Erwartungen lassen sich Nussbaums Fähigkeiten körperliche Gesundheit, körperlicher Unversehrtheit, praktische Vernunft und Kontrolle der Umgebung mit den Vorstellungen der Frauen und Mädchen verknüpfen.

Fazit – “I want to have an average life, not a troubled life and not a luxurious life” (I_26)

Der Beitrag gibt einen Einblick in Vorstellungen von Wohlergehen und Gesundheit der befragten tansanischen Kleinbäuerinnen und Mädchen aus dem Großraum Tübingen. Somit ergeben sich aus einem Einblick aus transkontinentaler Perspektive und verschiedenen Altersgruppen vielfältige Bilder, die gleichzeitig wiederkehrende Elemente und Muster aufzeigen, die zu einem erfüllten und gesunden Leben beitragen und sich auch in Nussbaums Fähigkeitenansatz wiederfinden. Viele der genannten Aspekte ließen sich auch mehr als einem Bereich zuordnen, was die starke Verschränkung verschiedener Dimensionen von Wohlergehen und Gesundheit miteinander betont.

Die Mädchen und Frauen bewegen sich innerhalb dieser Verschränkungen und in Spannungsfeldern, bestehend aus individuellen Wünschen, Bedürfnissen, Ressourcen, Möglichkeiten und externen Erwartungshaltungen. Letztendlich werten die Frauen und Mädchen aus ihren verschiedenen Lebensrealitäten heraus das Zusammenspiel mentaler, körperlicher und sozial-gesellschaftlicher Faktoren als zentral für das persönliche Wohlergehen und als Grundlage eines guten und wünschenswerten Lebens.

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Literatur:

Ammicht-Quinn, Regina (2005): Jung, schön, fit - und glücklich? In: Lederhilger, Severin J. (Hg.): Gott, Glück und Gesundheit. Erwartungen an ein gelungenes Leben. Peter Lang: Frankfurt a. M., S. 72-88.

Nussbaum, Marta (1999): Gerechtigkeit oder das Gute Leben. Suhrkamp: Frankfurt a. M.

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