Paläoanthropologie

Forschungsprojekte „Neandertaler“ und „Neandertal“

Im Sommer 1856 entdeckten zwei Steinbrucharbeiter ein menschliches Skelett in der Kleinen Feldhofer Grotte im Neandertal.

Vor dem Hintergrund der aufkommenden Evolutionstheorie entflammte diese Entdeckung die Kontroverse um die Existenz des fossilen Menschen in nie zuvor da gewesener Heftigkeit. Neben der Ansprache als urtümlicher Mensch durch den Elberfelder Lehrer und Naturforscher Johann Carl Fuhlrott und den Bonner Anatomen Hermann Schaaffhausen gab es eine Reihe anderer, teils abenteuerlicher Interpretationen. Diese reichen von einem „geistig minderbemittelten Menschen“ über einen „Kelten“ bis hin zu einem „Kosaken, der in der Höhle Schutz vor den Truppen Napoleons gesucht hatte“. Die wissenschaftlich solideste Gegenmeinung war die des Berliner Mediziners Rudolf Virchow, der die Abweichungen des Knochenbaus vom heutigen Menschen als krankhaft diagnostizierte. 1864 erhielt der Fund aus dem Neandertal seinen wissenschaftlichen Namen: Homo neanderthalensis. Seit 1991 wird der namengebende Neandertaler im Rahmen eines durch PD Dr. Ralf W. Schmitz geleiteten Forschungsprojektes in Kooperation mit dem Rheinischen Landesmuseum Bonn mittels moderner Verfahren umfassend neu untersucht.

Während das Skelett im 19. Jh. Weltruhm erlangte, versank das Neandertal im Schutt der immer weiter wachsenden Steinbrüche. Bereits um 1900 war die Position der zerstörten Fundstelle und damit der 1856 aus der Höhle geschaufelten Sedimente nicht mehr bekannt. 1997 jedoch gelang es Schmitz und seinem Kollegen Dr. Jürgen Thissen nach langwierigen Recherchen im Rahmen einer Grabung des Rheinischen Amtes für Bodendenkmalpflege, die Sedimente aus der Kleinen Feldhofer Grotte und der benachbarten Höhle „Feldhofer Kirche“ wiederzuentdecken. Eine weitere Grabungskampagne erfolgte im Jahr 2000. Es fanden sich Steingeräte des Cro-Magnon-Menschen mit einem Alter von rund 25 000 Jahren und etwa 42 000 Jahre alte Geräte der Neandertaler, die jeweils im Rahmen einer Magisterarbeit am Institut für Ur- und Frühgeschichte ausgewertet wurden.

Zu den bedeutendsten Funden zählen etwa 70 menschliche Knochenfragmente. Drei dieser Stücke lassen sich direkt an den originalen Neandertaler von 1856 ansetzen, zahlreiche weitere gehören aufgrund ihrer Robustheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu diesem Menschen. Einige doppelte Skelettteile belegen die Existenz eines zweiten, zuvor unbekannten Neandertalers an der Fundstelle, dessen Entdeckungsjahr mit 1997 zu vermerken ist. Das Bild wird abgerundet durch einen natürlich ausgefallenen Milch-Backenzahn eines Neandertaler-Kindes. An der Untersuchung des Neandertalers und der neuen Funde unter Projektleitung des seit 1997 am Institut von Prof Nicholas J. Conard lehrenden Schmitz sind derzeit 19 internationale Wissenschaftler aus 14 Instituten beteiligt. Das Projekt finanziert sich einerseits aus den Budgets der beteiligten Institute, andererseits aus Drittmitteln, die der Universität Tübingen vom Land Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellt werden.

Wissenschaftliche Ziele sind unter anderem die Bestimmung des Lebensalters sowie von Krankheiten und Verletzungen, weiterhin die Untersuchung geheimnisvoller, vielleicht mit Totenriten der Neandertaler in Verbindung stehender Schnittspuren auf den Menschenknochen. Von Bedeutung ist auch die Radiocarbon-Datierung auf rund 42 000 Jahre, womit die Neandertal-Funde zu den jüngsten Spuren der Neandertaler in Mitteleuropa zählen, und die Untersuchungen der Ernährung über die Mengenverhältnisse stabiler Isotope von Kohlenstoff und Stickstoff. Bisher aufsehenerregendstes Resultat waren jedoch die weltweit ersten Analysen an mitochondrialer DNA eines Neandertalers im Zeitraum von 1996 bis 1999, die den Neandertaler eher als europäische Nebenlinie denn als direkten Vorfahren des heutigen Menschen ausweisen. Die Analysen am neuentdeckten zweiten Neandertaler aus dem Neandertal vermochten inzwischen das erste Ergebnis ebenso zu bestätigen wie die Arbeiten anderer Teams an sieben weiteren dieser europäischen Ureinwohner.

Alle Ergebnisse des Forschungsprojektes Neandertal wurden im Rahmen einer englischsprachigen Jubiläumsmonographie vorgelegt. Sie waren auch in der Ausstellung „Roots // Wurzeln der Menschheit“ im Rheinischen Landesmuseum Bonn zu sehen.