Universitätsbibliothek

NS-Raubgut im Bestand der UB Tübingen

Die NS-Raubgutforschung in Bibliotheken beschäftigt sich mit der Identifizierung und Restitution von Büchern, die im Zuge der nationalsozialistischen Herrschaft unrechtmäßig erworben wurden. Als Grundlage dient die Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgutes insbesondere aus jüdischem Besitz (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 9. Dezember 1999), die wiederum den Grundsätzen der Washingtoner Konferenz (3. Dezember 1998) folgt. Im Vorwort der Handreichung zur Umsetzung der Erklärung (2019) heißt es:

Die auf der Konferenz verabschiedete „Washingtoner Erklärung“ legte das Fundament für die systematische Provenienzforschung zur Auffindung von vor allem jüdischen Bürgerinnen und Bürgern geraubten Kulturgütern. In diesen Washingtoner Prinzipien wurde programmatisch festgelegt, dass Sammlungen und Bestände auf das Vorhandensein von NS-Raubgut hin geprüft, identifizierte Objekte an die Opfer oder deren Erbinnen und Erben zurückgegeben werden oder zusammen mit ihnen nach anderen gerechten und fairen Lösungen gesucht werden soll.

Suchaktion und Restitutionen

Der Tübinger Journalist und Kulturwissenschaftler Hon. Prof. Dr. Hans-Joachim Lang legte die Ergebnisse seiner Recherchen zu NS-Raubgut an der Universität Tübingen in einem Zeitungsbericht vom 16.10.1999 offen. Dadurch angestoßen, begann an der Universitätsbibliothek Tübingen eine mehrjährige Untersuchung der Bestände auf NS-Raubgut, bei der ca. 84.000 Zugänge in den Zugangsverzeichnissen der Jahre 1933-1945 nach verdächtigen Lieferanten überprüft wurden. Die Schwierigkeit bei der Suche nach Raubgut-Beständen besteht zunächst darin, dass die Bestände systematisch, also nach Fachgruppen im Bestand verstreut und nicht chronologisch nach Eingangsdatum aufgestellt sind und dass die Zugangsverzeichnisse keine Magazinsignaturen, also den Standort des Buches, verzeichnen.

Nachdem in den Jahren 2000/2001 punktuell nach Raubgut gesucht worden war, begann im Jahr 2005 eine systematische Suche in den Zugangsverzeichnissen. Zu den verdächtigen Lieferanten gehören beispielsweise die Reichstauschstelle Berlin, die Preußische Staatsbibliothek, die Gestapo Stuttgart, die NSDAP-Kreisleitung und Wehrmachtsdienststellen. Nachdem die Magazinsignaturen im Katalog ermittelt waren, mussten die Bücher auf Provenienzmerkmale geprüft werden. Dies können z.B. handschriftliche Besitzeinträge, Stempel oder Exlibris sein. Ohne Eigentumsvermerk ist es nahezu unmöglich festzustellen, wem das Buch einmal gehört hat. Leider ist von daher eine zufriedenstellende Wiedergutmachung sowohl für die Einrichtungen als auch für die Hinterbliebenen oftmals nicht mehr möglich.

Die Untersuchungen, die ohne Projektmittel durchgeführt wurden, konnten Ende 2007 abgeschlossen werden. Die hier dargelegten Ergebnisse basieren auf den Veröffentlichungen des damals zuständigen Oberbibliotheksrats Peter-Michael Berger.

Bei den Recherchen von Hans-Joachim Lang ging es 1999 vordergründig um den Verbleib der Privatbibliothek des angesehenen Stuttgarter HNO-Arztes Cäsar Hirsch, die 1933 von der Gestapo beschlagnahmt und 1938 in die UB Tübingen gebracht wurde. Auf der Suche nach den Büchern im Bestand der UB konnten 1.030 Bände gefunden werden, die Dank der Vermittlung von Hans-Joachim Lang 2001 an den Sohn von Cäsar Hirsch, Peter J. Hearst, zurückgegeben wurden, wo sie heute in der Louise M. Darling Medical Library (University of California) in Los Angeles aufbewahrt werden. Cäsar Hirsch stammte aus einer schwäbisch-jüdischen Familie und nahm sich mit 54 Jahren am 14. Mai 1940 im Exil in Seattle das Leben.

Über die Verkaufsumstände einer weiteren Privatbibliothek, die NS-verfolgungsbedingt an die Universität Tübingen gelangte, wurde in der Literatur ausführlich diskutiert. Es handelt sich dabei um die Bibliothek von Professor Max Fleischmann, Rechtswissenschaftler in Halle (Saale), der sich am 14. Januar 1943 unter Druck der nationalsozialistischen Verfolgung das Leben nahm. Im März 1943 verkaufte die Witwe, Anna Josefine Fleischmann, ungefähr 1.600-1.700 Bücher an die Universität Tübingen, wovon Bände in die UB und in die damaligen juristischen Bibliotheken gelangten. 121 Bücher wurden von der UB an den Bruder George Fleischmann über die Israelitische Kultusvereinigung in Stuttgart 1954 zurückgegeben, jedoch erwarb die UB 1948 weitere Fleischmann-Bände aus einem Antiquariat. Diese 110 Bände erhielten einen einzigen Sammeleintrag im Zugangsverzeichnis und befinden sich bis heute verstreut im UB-Bestand, so dass sie bisher überwiegend nicht identifiziert werden konnten. Der Großteil aus dem Zugang von 1943 befindet sich im Juristischen Seminar. Da dort die Zugangsjournale dieser Zeit Lücken aufweisen, konnten die Titel nicht mit Bestimmtheit identifiziert werden. Die vermutlich zur Fleischmann-Bibliothek gehörenden Bände des Juristischen Seminars haben einen entsprechenden Vermerk im Bibliothekskatalog. 

Zusammenfassend hat die Suchaktion gemäß Peter-Michael Berger folgendes ergeben (Quelle: Peter-M. Berger: Universität Tübingen. Auf der Suche nach geraubten Büchern aus jüdischem Vorbesitz. In: Bibliothek Forschung und Praxis, Vol. 34, S. 217-221, April 2010):

  • enteignete Bücher aus Privatbesitz (ca. 1.250 Bände)
  • polizeilich beschlagnahmte Bücher verfolgter Körperschaften: Freimaurerlogen, Zeugen Jehovas, Baha'i, Kirchliche Einrichtungen (120 Bände)
  • unter Zwang veräußerte Bücher der Verfolgungsopfer (110 Bände)
  • von Wehrmachtsangehörigen als Besatzern geraubte Bücher (30 Bände)
  • Bücher aus Bibliotheken in annektiertem Gebiet (26 Bände).

Beauftragte der Zeugen Jehovas und der Baha’i-Gemeinde haben sich damit einverstanden erklärt, 55 Bände in der UB Tübingen zu belassen, welche die Gestapo 1936 und 1938 beschlagnahmt hat. Außerdem wurden im Jahr 1959 ca. 100 Bände einer württembergischen Freimaurerloge zurückgegeben.

Zurückerstattet wurde im Jahr 2000 ein Hydrographischer Atlas des Russischen Reiches an die Nationalbibliothek in Minsk.

Juni 2000: Restitution von 24 Büchern an die kommunale Bücherei Ravenna, deren Bestände 1944/45 ins „Casa di Oriani“ verbracht und dort angeblich vor den Flammen gerettet wurden. Sie gelangten als Geschenk der Dienststelle der Feldpost in die UB.

Der Spur einzelner Schicksale konnte anhand von Einträgen in den Büchern nachgegangen werden, sie führten jedoch nicht zu einer Restitution. Sie stammen von einer Lieferung der Reichstauschstelle vom 13.03.1943.

Derzeitiger Stand und Ausblick (April 2025)

Nach den Recherchearbeiten und Restitutionen der 2000er-Jahre wurde in der UB Tübingen das Thema NS-Raubgut im Rahmen der Provenienzforschung im Jahr 2024 neu aufgegriffen. In einem ersten Schritt soll die Auffindbarkeit von NS-Raubgut direkt im UB-Katalog verbessert werden.

Des Weiteren sollen Fundmeldungen in der Datenbank Lost Art angezeigt werden, so wie bereits mit dem Fragment einer Thora-Rolle geschehen.

An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass die Katalogeinträge der restituierten Bände der Privatbibliothek von Cäsar Hirsch seinerzeit aus dem Tübinger Katalog gelöscht wurden. Bei künftigen Funden sollen diese Katalogisate mit entsprechendem Vermerk zur Dokumentation im Katalog verbleiben.

Ein potenzielles Projekt ist die Aufarbeitung von Raubgut ohne Provenienzvermerke und antiquarische Erwerbungen sowie Erwerbungen von Privatpersonen aus der früheren Suchaktion. Ein weiteres mögliches Projekt ist die Suche nach Raubgut in den Erwerbungen nach 1945 einschließlich des erneuten Anlaufs, die 110 Bücher aus der Privatbibliothek von Max Fleischmann im Bestand der UB zu identifizieren. Es können sowohl während der Kriegszeit liegengebliebene und später inventarisierte Bücher als auch Zugänge weit nach Kriegsende aus unrechtmäßigen Erwerbungen stammen. Analog dazu ließe sich die Suche auf die Tübinger Institutsbibliotheken ausweiten. Eine Fördermöglichkeit beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste soll geprüft werden.

Eine systematische Durchsuchung des gesamten Bestandes nach 1945 kann mit den verfügbaren Ressourcen und aufgrund des Umfangs derzeit nicht mit vertretbarem Aufwand durchgeführt werden. Wir bemühen uns jedoch, die Aufarbeitung voranzutreiben und bitten in diesem Sinne auch Kolleginnen und Kollegen sowie Nutzerinnen und Nutzer, uns verdächtige Provenienzvermerke mitzuteilen: handschriftenspam prevention@ub.uni-tuebingen.de

Quellen

Berger, Peter-M.: Universität Tübingen: Auf der Suche nach geraubten Büchern aus jüdischen Vorbesitz. In: Bibliothek: Forschung und Praxis 34 (April 2010), S. 217-221.

Berger, Peter-Michael: Die erste Phase einer systematischen Suche nach Raubgut in der Universitätsbibliothek Tübingen. In: Jüdischer Buchbesitz als Raubgut: zweites Hannoversches Symposium: [am 10. und 11. Mai 2005 trafen sich Bibliothekare und Historiker zum Zweiten Hannoverschen Symposium Jüdischer Buchbesitz als Raubgut in der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek, Niedersächsische Landesbibliothek] / im Auftr. der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek, Niedersächsische Landesbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hrsg. von Regine Dehnel. Frankfurt am Main: Klostermann, 2006, S. 341-348.

Berger, Peter-Michael: Raubgutsuche in der UB Tübingen. In: Tübinger Bibliotheksinformationen 29 (2008) H. 2., o. S.

Egidy, Berndt von: Die Sammlung Cäsar Hirsch. In: AKMB-news, 9 (2003), 
Nr. 3, S. 9-11.

Egidy, Berndt von: Fund und Restitution der Bibliothek Cäsar Hirsch. In: Jüdischer Buchbesitz als Beutegut: eine Veranstaltung des Niedersächsischen Landtages und der Niedersächsischen Landesbibliothek; Symposium im Niedersächsischen Landtag am 14. November 2002 / Hrsg.: Der Präsident des Niedersächsischen Landtages - Referat für Presse, Öffentlichkeitsarbeit, Protokoll. [Hannover]: Präsident des Niedersächs. Landtages, Referat für Presse, Öffentlichkeitsarbeit, Protokoll, 2003, S. 66-70.

Lang, Hans-Joachim: Die Tübinger Juristen-Fakultät als Schnäppchenjäger. Zum Schicksal der Privatbibliothek des verfolgten Völkerrechtlers Max Fleischmann aus Halle. In: Bibliotheken in der NS-Zeit: Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte / Stefan Alker; Christina Köstner; Markus Stumpf (Hg.). Göttingen: V & R Unipress, Vienna Univ. Press, 2008, S. 175-185.

Lang, Hans-Joachim: Ein Geschenk der Gestapo. In: Schwäbisches Tagblatt vom 16.10.1999, S. 31.

Lang, Hans-Joachim: Reichstauschstelle, Preußische Staatsbibliothek und die Gestapo als Bücherlieferant der UB Tübingen. In: NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek: Vorträge des Berliner Symposiums am 3. und 4. Mai 2007 / hrsg. von Hans Erich Bödeker und Gerd-Josef Bötte. München: Saur, 2008, 
S. 135-144.

Schneider, Sebastian: Die Bibliothek Fleischmann in Tübingen – die Tübinger Juristenfakultät auf „Schnäppchenjagd“? In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 75 (2016), S. 277-290.

Literatur

Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet: NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945 / Cornelia Briel. Berlin, 2013.

Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgutes insbesondere aus jüdischem Besitz (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 9.Dezember 1999).

Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999. Neufassung 2019.

Kulturgutverluste, Provenienzforschung, Restitution: Sammlungsgut mit belasteter Herkunft in Museen, Bibliotheken und Archiven / [Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern. Red.: Wolfgang Stäbler]. München; Berlin : Dt. Kunstverl., 2007.

Leitfaden Provenienzforschung : zur Identifizierung von Kulturgut, das während der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgungsbedingt entzogen wurde / Deutsches Zentrum Kulturgutverluste gemeinsam mit Arbeitskreis Provenienzforschung e.V., Arbeitskreis Provenienzforschung und Restitution - Bibliotheken, Deutscher Bibliotheksverband e.V., Deutscher Museumsbund e.V., ICOM Deutschland e.V. ; Autoren: Andrea Baresel-Brand, Michael Franz, Johannes Gramlich [und 20 weitere].
Magdeburg : Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, 2019

Washington Principles 1998