Katrin Esther Lörch-Merkle
Kollegiatin im Graduiertenkolleg Bioethik
E-Mail: katrin-esther.loerch-merklespam prevention@izew.uni-tuebingen.de
Dissertationsprojekt
Materiale Wertethik und Willensfreiheit. Die Ethik Nicolai Hartmanns als Bewertungsgrundlage für die Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken?
Als Natur-Kultur-Wesen verändert der Mensch sich und seine Umwelt wohl seit jeher und strebt nach der steten Verbesserung seiner Fähigkeiten und Eigenschaften. Der rasante Fortschritt der Biotechnologien und der damit verbundene Zuwachs an Optionen, modifizierend in den Organismus einzugreifen, übertrifft die klassischen Formen der Selbstformung allerdings bei weitem. Diese bislang nicht erreichten Dimensionen der biotechnologischen Verfügbarkeit des Menschen konfrontieren Ethik und Anthropologie mit neuen Herausforderungen. Die Praktiken der biotechnologischen Verbesserung des Menschen (Human Enhancement) sind daher seit einiger Zeit Gegenstand einer kontroversen fachlichen und zunehmend auch gesellschaftlichen Debatte. Das Phänomen des Human Enhancement mit seinen bereits praktizierten bzw. künftig möglichen Maßnahmen und Verfahren ist von solch weitreichender Konsequenz für unser Selbst-Verständnis als Personen und das, was wir als solche für wertvoll erachten, dass ein wachsendes Bedürfnis nach wertvermittelter Orientierung und nach einer Handreichung bei konfligierenden Grundwerten gerade für diesen sensiblen Kontext verständlich wird. Dabei sind es vor allem die mit Eingriffen ins Gehirn einhergehenden zukünftigen Techniken des Neuro-Enhancement, die eine neuerliche Reflexion über die Grundlagen und Bedingungen von Personalität und die Voraussetzungen für autonomes und selbstverantwortliches Handeln notwendig machen.
Der spezielle Bezug des Menschen als Subjekt zu Werten, gleichsam als den „Sinnkonstituenten“ der Gestaltung seiner selbst und seiner Welt, erfährt neuerdings wieder vermehrt Beachtung und findet seinen Niederschlag auch im wiedererwachenden fachphilosophischen Interesse an wertethischen Ansätzen. In diesem Bedeutungshorizont untersucht die Forschungsarbeit Nicolai Hartmanns Konzeption einer materialen Wertethik im Hinblick auf ihren möglichen Beitrag zu einer Bewertung des Human Enhancement. In seiner 1926 erstmals erschienenen Ethik entwickelt Hartmann Max Schelers Ansatz einer materialen Wertethik weiter und verbindet diesen mit einer umfassenden Theorie der Willensfreiheit. Sowohl Scheler als auch Hartmann entfalten ihre Theorie in kritischer Abgrenzung gegenüber dem kantischen Formalismus und Intellektualismus. Darüber hinaus teilen sie die Vorstellung einer möglichen Rangordnung der Werte, die sich als a priori geltend nachweisen lassen, sowie das der Ethik inhärente Konzept von Person und Persönlichkeit, das zum Einstehen für einen ethischen Personalismus führt.
Die Untersuchung rekonstruiert diejenigen Kernkonzepte von Hartmanns Ansatz, die für eine kritische Evaluation des Enhancement und seiner Methoden als fundierend gelten können. Folgende Aspekte sind dabei von besonderem Potenzial:
1. Hartmanns reichhaltiger Entwurf der Person, gleichsam als anthropologisches Fundament seiner Ethik, der im Umkreis derjenigen Ansätze seinen Stellenwert beanspruchen kann, welche aus der Perspektive der Leiblichkeit der Person den Technologien des Enhancement kritisch gegenüber stehen und damit zugleich der besonderen anthropologischen Relevanz der Enhancement-Problematik insgesamt Rechnung trägt.
2. Die Theorie der Werte und der Wertgesetzlichkeit (unter besonderer Berücksichtigung von Autonomie und Gerechtigkeit), die sich auszeichnet durch ihre präzisen phänomenologischen Einzelanalysen, dabei jedoch gleichzeitig offen bleibt für Ergänzungen um aktuelle Wertbegriffe aus der angewandten Ethik sowie eigene axiologische Erwägungen und sich damit als prinzipiell anschlussfähig an gegenwärtige Themen erweist. Aus der Hierarchie der sittlichen Werte sind zunächst die Kriterien für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Enhancement destilliert. Auf Grundlage der „individuellen Personwerte“ wird die Persönlichkeit des Menschen dann in ihrer wertvermittelten Einheit als unverfügbar bestimmbar.
3. Das „starke“ Konzept der Willensfreiheit, das eine eine belastbare Basis zur Bewertung von Enhancementtechnologien, gerade auch unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Debatte um den freien Willen und die personale Autonomie sowie die daraus resultierende Brisanz für die biotechnologische Entwicklungen und Selbstgestaltungsoptionen des Menschen, darstellt. Die Stärke von Hartmanns Ansatz wird dabei darin gesehen, dass hier in Abgrenzung zu Kant die Orientierung an der individuellen Autonomie erfolgt; zwar greift Hartmann die kantische Selbstgesetzgebung auf, erweitert sie allerdings um das Moment der Person. Insofern kommt dies der gängigen Verwendungsweise des Autonomiebegriffs in den aktuellen bioethischen Debatten entgegen, auch wenn es hier gerade nicht um die ausschließliche Orientierung an den persönlichen Präferenzen geht darf. Denn auch Hartmanns autonome Person bleibt der Sittlichkeit verpflichtet.
Das Ergebnis der Arbeit bildet ein von Nicolai Hartmanns Ethik ausgehender Kriterienkatalog derjenigen ethischen Implikationen, die einen verantwortungsvollen Umgang mit den Chancen und Risiken der biotechnischen Selbstgestaltung des Menschen aufzeigen. Die verschiedenen Anwendungsbereiche des Neuroenhancement (Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit [physisches Enhancement] Aufhellung der Grundstimmung [mood-Enhancement], Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten, Korrektur moralischer Defizite, bis schließlich zu transhumanen Erweiterungen) dienen dabei als Folie, anhand derer die neuen Formen der Selbstgestaltung des Menschen kritisch auf ihr Erlaubt- oder gar Gebotensein, bzw. ihre Untersagung untersucht und bewertet werden.
Hartmanns ›ganzheitlicher‹ Entwurf der Person und Persönlichkeit basiert auf seiner anthropologischen Konzeption der Person in Anlehnung an Arnold Gehlens Mängelwesen sowie den kategorialen Annahmen der Schichtenontologie und gipfelt in der Axiologie der materialen Wertethik. Die Axiologie kann hierbei eine Orientierung bieten, die Person in ihrer leiblich-geistigen Verfasstheit zu schützen. Verbesserungsmaßnahmen, die mit einer Veränderung der Persönlichkeit einhergehen, wären damit aufgrund der Gefahr einer einseitigen Wertrealisation abzulehnen.
Zur Person
- 2004-2010 Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Philosophie und katholischen Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
- Juni 2010 Magisterprüfung, Titel der Magisterarbeit: „Zur Wahrnehmung der Pockenepidemien in der Frühen Neuzeit – Strafgericht Gottes oder Prävention und Therapie als Indizien der Volksaufklärung?“
- Seit November 2010 bis Ende 2013 Mitglied im Graduiertenkolleg Bioethik am IZEW und Stipendiatin der DFG
Vorträge
04.11.2009 „Geschichte der Impfung“ (im Rahmen der Vorlesung „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ an der Medizinischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen)
22.05.2010 „Geschichte und Ethik der Impfung“ (im Rahmen der Vorlesung „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ an der Medizinischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen)
Publikationen
Lörch, Katrin: Nützliches und Unterhaltendes Wochenblatt für verschiedene Leser/Biberacher Zeitung, in: Haug-Moritz, Gabriele/Holtz, Sabine/Kasper, Verena (Hgg.), Die österreichische Kaiserwürde (1804) und das Ende des Alten Reiches (1806) im Spiegel der Medien. Die Steiermark und der Südwesten des Reiches – ein Vergleich, Graz 2008, S. 190-204.
-----: Kalender, Deutscher Südwesten, in: Haug-Moritz, Gabriele/Holtz, Sabine/Kasper, Verena (Hgg.), Die österreichische Kaiserwürde (1804) und das Ende des Alten Reiches (1806) im Spiegel der Medien. Die Steiermark und der Südwesten des Reiches – ein Vergleich, Graz 2008, S. 244-251.
Kontakt
katrin-esther.loerch-merklespam prevention@izew.uni-tuebingen.de