Criminology of Place – Möglichkeiten und Grenzen für die polizeiliche Maßnahmengestaltung – Vortrag von Dr. Kai Seidensticker (LKA Nordrhein-Westfalen)
Ins neue Jahr startete der Kriminologisch-Kriminalpolitische Arbeitskreis (KrimAK) am 26.1.2022 mit einem überaus interessanten Online-Vortrag von Dr. Kai Seidensticker zum Thema „Criminology of Place – Möglichkeiten und Grenzen für die polizeiliche Maßnahmengestaltung“. Der Referent und Kriminaloberkommissar ist Leiter von „SKALA“, einem System zur Kriminalitätsauswertung und Lageantizipation in der Kriminalistisch-Kriminologischen Forschungsstelle (KKF) des LKA NRW. Seidensticker nimmt darüber hinaus Lehraufträge an verschiedenen Institutionen wahr.
Vor rund 60 zugeschalteten Zuhörerinnen und Zuhörern führte der Referent zunächst in den Forschungsschwerpunkt der KKF ein, der aktuell auf einer Analyse der räumlichen Kriminalitätskonzentration liegt. Historisch sei die Kriminologie zunächst auf die Untersuchung von Taten, Täter(innen) und Opfern ausgerichtet gewesen. Seit etwa 50 Jahren steige das Bewusstsein, dass der Raum eine weitere wichtige Betrachtungsweise bei der Kriminalitätsbekämpfung einnehme. Seidensticker stellte in diesem Zusammenhang Ergebnisse einiger Studien aus den USA zur Straßenkriminalität in Städten vor. So spielten sich z. B. in Sacramento 50% der Kriminalität in nur 4,2% der Straßenabschnitte ab. Die bisher wenigen Untersuchungen in Deutschland kämen zu ähnlichen Resultaten. Z.B. seien 50% der Wohnungseinbruchdiebstähle in Essen in nur 4,7% der Straßenabschnitte verübt worden. Nach Seidensticker ergäbe sich aus allen Studien, dass die Kriminalität auf bestimmte Straßenabschnitte konzentriert sei. Anhand kleinsegmentierter Untersuchungen zeige sich überdies, dass selbst innerhalb hochbelasteter Wohnquartiere zahlreiche Straßenabschnitte kaum oder nur eine geringe Kriminalitätsbelastung aufwiesen.
Die KKF habe im Jahr 2021 ein Projekt gestartet, in welchem die Konzentration von Straßenkriminalität unter anderem anhand von Straßenabschnitten in Köln und Leverkusen, Hamm, Herten, Wuppertal, Essen und Mülheim a.d.R. untersucht werden soll. Ziel sei dabei, relevante Zusammenhänge zwischen der Kriminalitätskonzentration und räumlichen Faktoren, wie z.B. soziokulturellen oder städtebaulichen, herzustellen, dadurch Probleme der Kriminalitätsentstehung zu analysieren und die Erkenntnisse für die präventive Polizeiarbeit nutzbar zu machen. Der Referent präsentierte anhand von Schaubildern dazu erste Ergebnisse, nach denen auch hier bestimmte Straßenabschnitte eine hohe, andere nur eine geringe oder gar keine Kriminalitätsbelastung aufwiesen. Diese Erkenntnis sei für einen effizienten Polizeieinsatz von maßgeblichem Vorteil. Verstehe man die Ursachen der Kriminalität, stelle sich die Frage, ob sich diese mit polizeilichen Maßnahmen reduzieren lasse und ob eine kontinuierliche Netzwerkarbeit mit verschiedenen Akteuren, z.B. durch Soziale Arbeit, sinnvoll sei.
Zudem machte der Referent auf die Möglichkeit proaktiver Polizeimaßnahmen aufmerksam, deren Effizienz zur Kriminalitätsreduzierung bereits durch Studien belegt sei. Hieran schlossen sich Ausführungen zu den Grenzen der polizeilichen Maßnahmengestaltung an. Problematisch sei insbesondere, dass die vorhandenen polizeilichen Daten nicht immer auf eine kleinsegmentierte räumliche Analyse von Kriminalität ausgerichtet seien. Auch benötige die Polizei eine verbesserte Analyse- und Auswertekompetenz.
Seidensticker rundete seinen spannenden Vortrag mit einem optimistischen Ausblick ab, wobei er die Frage aufwarf, ob das Verständnis von Polizeiarbeit in Zukunft einen Wandel vollziehen müsse. Um diese weniger ereignis-, sondern mehr problemorientiert auszugestalten, sei ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, der verschiedene Strömungen, wie eine datengetriebene Auswertung und ein evidenzbasiertes und raumorientiertes Verstehen, vereine.
Im Anschluss an seinen Vortrag beantwortete der Referent noch zahlreiche Fragen aus der Zuhörerschaft. Thematisiert wurden etwa der Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Praxis, deren Übertragbarkeit auf den ländlichen Raum und die Gefahr einer missbräuchlichen Nutzung wissenschaftlicher Daten durch potenzielle Täter.