„Was die Benützung betrifft, möchte sie nicht leicht gegen eine andere öffentliche Anstalt in Deutschland bedeutend zurückstehen. Einmal ist dieselbe durch die Liberalität der Einrichtungen sehr erleichtert und dann wird auch sowohl von Professoren als Studierenden, wie von auswärtigen Gelehrten reichlicher Gebrauch davon gemacht“.
Mit diesen Worten charakterisierte 1854 der 2. Unterbibliothekar der königlichen Universitätsbibliothek, der Historiker Karl Klüpfel, die 1850 erlassene Benutzungs-ordnung. Bis zu diesem Zeitpunkt regelte lediglich ein Erlass des Ministeriums des Innern und des Kirchen- und Schulwesens die Nutzung der Bibliothek durch Universitätsfremde. Adelbert Keller, seit 1844 Oberbibliothekar und damit Leiter der Bibliothek hatte sich zwar bereits im Mai 1845 mit dem Entwurf eines Benutzungsstatuts an den Akademischen Senat gewandt, allerdings wurde das von diesem Gremium beschlossene Statut dem Ministerium nicht zur Genehmigung vorgelegt. Mehrere Gesuche von Studierenden auf Erleichterung der Bibliotheks-benutzung veranlassten Keller, 1848 den Entwurf zu überarbeiten und diesen der Bibliothekskommission und dem Senat erneut zur Diskussion vorzulegen. Am 24.05.1850 genehmigte das zuständige Ministerium das Statut, das in 44 Paragraphen alles rund um die Benutzung regelte. Damit waren die Benutzer nicht mehr auf den guten Willen der Bibliothekare angewiesen. Prinzipiell hatte jeder Interessierte das Recht auf Benutzung der Universitätsbibliothek, allerdings zu unterschiedlichen Bedingungen. Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts erscheinen einige Regelungen sicherlich sehr restriktiv, versetzt man sich aber in das 19. Jahrhundert zurück, so kann man durchaus eine gewisse Liberalität und den erklärten Willen der Tübinger Bibliothekare „den gelehrten Bedürfnissen des Publikums auf das zuvorkommendste zu dienen“ erkennen.
Ausgeschlossen von der Benutzung wurde zwar keine Gruppe der Bevölkerung, allerdings den Studierenden und Universitätsfremden die Zugänglichkeit zu den Büchern erschwert. Diese beiden Gruppen benötigten die Bürgschaft eines ordentlichen Professors oder Privatdozenten der Universität, um Bücher ausleihen zu können. Alternativ konnten Tübinger, die nicht der Universität angehörten, ein schriftliches Gesuch auf Benutzung bei der Bibliothekskommission einreichen. Die Gruppe der Universitätslehrer und -beamten war in jeder Hinsicht bevorzugt. Sie benötigten u.a. keine Bürgschaft, konnten ein eigenes Lesezimmer mit einer verlängerten Öffnungszeit nutzen und durften Bücher sofort entleihen. Die Studierenden, d.h. die Gruppe, für die sich die Bibliothek neben den Universitätslehrern als in erster Linie für zuständig erklärte, mussten mit einer Reihe von Erschwernissen leben. Als besonders benachteiligend empfand diese Nutzergruppe die Auflage, für jede Buchausleihe die Bürgschaft eines Professors einholen zu müssen. Und dass, obwohl die Eltern der Studierenden beim Eintritt in die Universität versichern mussten rechtmäßige Schulden zu übernehmen.
Die Benutzung erfolgte entweder im Lesezimmer der Bibliothek, die sich seit 1819 auf dem Schloss Hohentübingen befand oder durch Ausleihe. Das Lesezimmer war mit Ausnahme von Sonn- und Feiertagen sowie in den Oster- und Herbstferien täglich von 9-12 und 13-16 Uhr geöffnet. Im Lesezimmer standen den Nutzern verschiedene Kataloge zur Verfügung. Professoren und Privatdozenten durften die sogenannten Büchersäle betreten und kamen so in den Genuss einer Freihandbenutzung. Alle übrigen Nutzer mussten die Bücher bestellen. Dazu wurden Bestellkästen im neuen Universitätsgebäude (Neue Aula) und am Eingang des naturhistorischen Kabinetts in der Alten Aula aufgestellt. Bestellungen konnten sozusagen rund um die Uhr aufgegeben werden, geleert wurden die Kästen vormittags um 10 Uhr, die Ausgabe der Bücher erfolgte am Nachmittag. Zur Unterstützung der Tübinger Bibliothek war bereits 1816 ein Fernleihverkehr mit der Öffentlichen Bibliothek in Stuttgart eingerichtet worden.
Die Zugänglichkeit der Universitätsbibliothek zu erleichtern und dadurch die Nutzung zu steigern waren die erklärten Ziele der Tübinger Bibliothekare im 19. Jahrhundert. Ein Baustein zur Erreichung dieses Zieles war sicherlich die Regelung der Benutzung durch das Statut von 1850.
UAT 117/631: Akademisches Rektoramt, Nutzung der Bibliothek, 1845-1931
UAT 167/343: Universitätsbibliothek, Benutzung, 1832-1884
Harald Weigel, Adelbert Keller und Johannes Fallati als Leiter der Tübinger Universitätsbibliothek (1844-1855), hier: S. 95-110.